Architektur Forum Ostschweiz

Erst kanalisiert, dann renaturiert

Die Flusskorrektionen und Meliorationen an Linth und Thur im 19. Jahrhundert haben mit schnurgeraden Kanälen der Landschaft ihr Gepräge aufgedrückt. Heute, da sie renaturiert wird, kann sich das Landschaftsbild wieder dynamisch transformieren.

Beitrag vom 22. November 2014

Text: Rahel Hartmann Schweizer

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Ende letzter Woche ist die öffentliche Planauflage in den Gemeinde­verwaltungen von Weinfelden, Bürglen und Bussnang der sechsten von neun Etappen der Thur­korrektion zu Ende gegangen. Es kündigt sich ein harziger Prozess zwischen Umweltschützern und Bauern an, wie er auch die Arbeit an der Linth begleitet hat – eine Ausmarchung zwischen Landschaft und Landwirtschaft. Deren Hüter wollen das Kulturland nicht hergeben, das der Natur einst mit den Korrektionen abgetrotzt worden war.

Die Thurkorrektion ist neben der Linth- und der Inn-/Flaz-Renaturierung eine der drei prägenden Eingriffe in den Wasserbau, die in der Ostschweiz in den vergangenen Jahren in Angriff genommen und nun teilweise abgeschlossen sind, mit denen die Inter­ventionen des 19. Jahrhunderts saniert werden.

Ingenieurbau als «Kunst»

Die damalige Kanalisierung der Flussläufe war Ausdruck einer Ingenieur­baukunst nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts, die Natur zu bändigen: zum Schutz vor Hochwasser, zur Gewinnung von Kulturland und zur Schiffbar­machung günstiger Verkehrs­wege.

Nicht unbesonnen ist der Begriff «Kunst» gewählt. Eine Beschreibung von 1820 würdigte das Linthwerk: «Niemand mag über die Damm­krone wandern, ohne die Kunst zu bewundern, welche einen wilden und stürmisch aussehenden Alpen­strom in einen gleichförmig und majestätisch daher­fliessenden verwandelt hat, dessen Geräusch dem Rieseln eines Baches gleicht.»

Den Ingenieurbau als «Kunst» zu werten, die Natur zu bändigen, zu kultivieren, nutzbar zu machen, entsprach einer Ästhetik, die sich in Opposition zu Wildwuchs und jener zerstörerischen Natur­gewalt definierte, welche die Annalen füllte: «Unwetter mit Dammbrüchen», «Hochwasser mit Über­schwemmung», «Inn und Flaz durch­brachen die Wuhre», so liest sich die Unwetterchronik von Samedan der letzten 500 Jahre. Der jüngste Eintrag «Flaz-Hochwasser (…) führte zur Überflutung des unteren Teils des Flugplatzes Samedan» datiert von 2004, zu einem Zeitpunkt, als die Mass­nahmen zum Hoch­wasser­schutz – über 150 Jahre, nachdem Inn und Flaz kanalisiert worden waren – im Rahmen der zweiten Korrektion kurz vor der Vollendung standen. Das Ereignis führte vor Augen, wie dringlich der Eingriff war.

Zäh an Thur und Linth

Die grösste Fluss­verlegung in der Schweiz seit mehr als achtzig Jahren ging aus einer Konzept­studie hervor, in deren Rahmen zwei Lösungen evaluiert wurden: Die eine unter dem Titel «Flaz-Entlastung» sah höhere Dämme und einen Gerinneausbau mit Hochwasserentlastung in einen Über­flutungs­korridor Champagna vor. Die andere, radikalere und nachhaltigere, postulierte unter der Bezeichnung «Flaz-Verlegung» ein neues Gerinne von Punt Muragl bis Gravatscha. Die Bevölkerung Samedans entschied sich für diese.

Zäher verlief beziehungsweise verläuft der Prozess an der Linth beziehungsweise der Thur, obwohl sich die Situation in beiden Fällen ähnlich präsentierte: Kaum hatte die Linthkommission (Glarus, Schwyz, St. Gallen, Zürich) 1998 eine Studie zur Sanierung des Hochwasserschutzes in Auftrag gegeben, lieferte das Jahr­hundert­hochwasser ein Jahr später (1999) die traurige Bestätigung der Dringlichkeit, an Linth- und Escher­kanal auf einer Länge von 17 beziehungs­weise 6 Kilometern Dämme zu sanieren, Auf­weitungen zu realisieren und Mittel­gerinne umzugestalten.

Auslösendes Hochwasser 1978

Im Kanton Thurgau war es das Hochwasser von 1978, das die Arbeit am Thur-Richtprojekt 1979 (TRP79) auslöste. Diese mündete im November 2004 in das vom Regierungs­rat abgesegnete Papier «2. Thur­korrektion – Konzept 2002», dessen Perimeter sich auf eine Länge von 36,6 Kilometern von der Murg­mündung bis zur St. Galler Grenze erstreckt.

Obwohl die Projekte «Hochwasser­schutz Linth 2000», «Konzept Thur 2002» sowie «Flaz-Verlegung und Renaturierung En» im Einzelnen unterschiedliche Gewichtungen erfahren, lassen sich ihre Zielsetzungen auf drei Kernthemen konzentrieren: oberste Maxime ist der Hoch­wasser­schutz, flankiert von Nutzungsoptionen (Schutz von Kulturland und extensive Landwirtschaft im Flussraum) sowie ökologischen Grundsätzen, die Lebens­räume im Flussraum aufzuwerten. Basis war das neue, 1991 aus­gearbeitete und 1993 nach einer Volks­abstimmung in Kraft getretene Eidgenössische Wasser­bau­gesetz. Es bildete die gesetzliche Grundlage für den Paradigmen­wechsel von der «Unterwerfung » der Natur zu ihrer Aufwertung.

Aufwand kaum ablesbar

Heute vermitteln Linth, Thur und Inn/Flaz einen Eindruck davon, wie der trockene Buchstabe Gestalt annehmen kann. In mäandernden Wasser­läufen können Äsche und Bach­forelle wieder einen Lebensraum erobern. Kiesbänke sind potenzielle Standorte einheimischer Flora und Fauna. Teiche und Auen­wälder werden Wasser­pflanzen, Libellen und Amphibien beheimaten.

Es ist der Clou der Interventionen, dass die Leistungen der Ingenieure, die mit kaum weniger Verve gearbeitet haben als seinerzeit Escher & Co., kaum als solche in Erscheinung treten – es sei denn an den Infras­truktur­bau­werken wie der neuen Molliser­brücke über den Escherkanal, deren hydrodynamisch ausgebildeter Fahrbahnträger so genannte Verklausungen, das heisst das Aufstauen an­geschwem­mten Treibgutes, verhindert.

Demgegenüber lässt die Idylle, als die sich beispiels­weise die Fluss­auf­weitung Chli Gäsitschachen bereits heute präsentiert, den immensen Aufwand ihrer Entstehung – Verstärkung des linken Hoch­wasser­schutz­damms, Gestaltung des rechtsufrigen Abschlusses der Aufweitung als Flachdamm, Sicherung der Sohle im Escher­kanal, Rodung von sechs Hektaren Wald – kaum erahnen.

So könnte die Hymne auf die Ingenieurs­kunst 200 Jahre nach der oben zitierten Beschreibung dereinst lauten: «Niemand mag das 70 Kilometer lange Weg­netz in einer von Vogel­stimmen und Unken­rufen erfüllten Atmos­phäre erwandern, ohne die Kunst zu bewundern, die einen mono­tonen, ein­gezwängten Strom in ein dynamisch mäanderndes, das Gemälde der Land­schaft mit immer wieder neuen Nuancen an­reicherndes Gewässer trans­formiert hat.»

Bildnachweis

Christof Rostert

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