Architektur Forum Ostschweiz

31. Dezember 2020

Zum Jahresabschluss

Online

Beitrag von Stéphanie Hegelbach

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«Einem Jäger ähnlich hat sich das Architektur Forum Ostschweiz dieses Jahr aufgemacht, das Konzept der Schönheit einzukreisen und sich an dessen Bedeutung heranzupirschen. Mit Architektinnen und Ingenieuren, Journalistinnen und Kunsthistorikern diskutierten wir den grossen Begriff der Schönheit. «Schön» – ein Wort, das jeder kennt und braucht. Eine Alltäglichkeit, über die wir oft keinerlei Gedanken verlieren. Doch wenn wir genauer hinschauen, zeigen sich unendlich viele Facetten von Schönheit, Masken in wechselnden Lichtern. Manch einer hält Schönheit für Eleganz und Proportion, wieder andere würden eben gerade die Dissonanzen als schön bezeichnen. Während den Veranstaltungen zum Jahresthema war es unausweichlich, an bekannte Denker erinnert zu werden: Der Architekt Martin Bühler meinte, die Sehnsucht des Menschen nach Regelhaftigkeit sei ein Ausschnitt von Schönheit, was an Aristoteles und seine Ordnung der Phänomene anknüpft. Jürg Conzetts sehr persönlicher Vortrag zum Thema Schönheit zeigte, dass Protagoras vielleicht recht hatte, dass der Mensch das Mass aller Dinge und die Schönheit folglich subjektiv ist. So wie Platon, der Schönheit als etwas Absolutes und Wahres in seinem Ideenhimmel bezeichnen würde, beschrieb Ludovica Molo: «Schön ist, was Sinn macht und die Wahrheit in sich trägt, was verankert ist in Zeit, Kultur und Ort.» Eine Zuhörerin aus dem Publikum machte auf die Gedanken von Nietzsche zum Apollinischen und dem Dionysischen, zu Ordnung und Chaos, aufmerksam und meinte, beides habe seine Berechtigung.

Die Frage der Schönheit ist eine der ältesten Fragen und zugleich eine Frage, die sich jede und jeder immer wieder neu stellen muss. Die Schönheit kann erhaben sein und über uns schweben, aber ist zugleich eine höchst subjektive Bewertung.

Ich durfte die Veranstaltungen des AFOs als Autorin der Edition besuchen. Jeder Abend war eine Entdeckungsreise in eine Parallelwelt, in der wir die Banalität des Alltags hinter uns liessen. Ich staunte darüber, welch tiefgründige Gedanken hervorkamen und welche Menschen sich für Schönheit in der Architektur interessieren. Da war der Gebäudetechniker, der mir nach der Veranstaltung sein persönliches Interesse an Schönheit schilderte. Da war die Gesangslehrerin und Leiterin des Chors meiner ehemaligen Kantonsschule, die unverhofft vor mir stand und über die Schönheiten in ihrem Alltag erzählte. Erstaunlicherweise hat sie uns damals im Gesangsunterricht als Übung eine indianische Weisheit über Schönheit aufsagen lassen, während wir durch den Raum schritten. Sie lautete folgendermassen:

Ich gehe, und Schönheit ist vor mir.
Ich gehe, und Schönheit ist hinter mir.
Ich gehe, und Schönheit ist über mir.
Ich gehe, und Schönheit ist unter mir.
Schönheit umgibt mich, wohin immer ich gehe.
Schön sind auch meine Worte.

Diese Weisheit beschreibt die Erfahrung, dass Schönheit in allen Richtungen sowie in der Sprache zu finden ist. Wir erleben sie als Architektinnen und Architekten in übergreifenden Planungen oder in der feinen Detaillösung. Wir empfinden sie in den unterschiedlichsten Schattierungen: als profane oder erhabene Schönheit, als spontane oder zeitlose Schönheit. Ich lade Sie dazu ein, all diese Schönheiten in Ihrem Alltag zu entdecken. Denn wenn nicht in dieser speziellen Zeit, wann dann? Vielleicht erinnern sie sich aber auch noch an die Aussage von Annette Gigon, die meinte: «Der Begriff «schön» ist mir zu einfach.» Auch der Moderator Jean-Daniel Strub fragte die Podiumsgäste: «Meinen wir wirklich schön, oder vielleicht eher beeindruckend?» Ich möchte sie dazu ermutigen, genauer hinzuschauen und sich die Frage zu stellen: Ist «schön» der treffendste Begriff? Oder ist es vielleicht eher «belebend», «atemberaubend» oder «herzerfreuend»? Denn was mir von den Veranstaltungen geblieben ist, ist nicht eine klare Antwort auf die Frage «Was ist schön?», doch vielmehr die Erkenntnis, dass wir Menschen viel tiefgründiger sein können, als man aufgrund all der oberflächlichen Kurznachrichten, Emoticons und Mails vermuten könnte. Für mich hat das AFO in diesem Jahr der Schönheit und von Corona aufgezeigt, wie wichtig es ist, Menschen einander näherzubringen, gemeinsam genauer hinzuschauen, zu diskutieren und seine eigenen Gedanken aufzuräumen. Wir hoffen, das AFO kann diese Stärke im neuen Jahr weiterverfolgen – vielleicht auch im Onlineformat.»

Stéphanie Hegelbach studiert im Master Architektur an der ETH. Sie schreibt als freie Autorin über Architektur und Wissenschaft für Architekturmagazine und Online-Plattformen sowie für die Institutionen der ETH. Als schön empfindet sie die Stille, wenn nach dem Herbst der erste Schnee fällt.

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