«Es kommt ein Punkt, da sagst du zum Wald, zum Meer, zu den Bergen, der Welt: Jetzt bin ich bereit. Jetzt werde ich innehalten und ganz Ohr sein. Du machst dich leer und wartest; du lauschst.»
(aus: Annie Dillard, «Einen Stein zum Sprechen bringen»)
Dieses Zitat der amerikanischen Dichterin bringt für mich ein Gefühl zum Ausdruck, das ich unter anderem beim Reisen suche. Dieses Leerwerden, Warten und Lauschen. Was kommt, spielt eigentlich keine Rolle. Entlegene Orte müssen nicht per se aussergewöhnlich sein, um das Sehnen nach dieser Form von Präsenz zu stillen. Sie können diese besondere Erfahrung zumindest einen kurzen Moment lang erzeugen – bevor sie wieder verpufft und als Spur, als Sehnsucht zurückbleibt. Das ist meine persönliche Lesart eines Sehnsuchtsortes.
Das deckt sich allerdings nicht mit dem, was der heute gängige Tourismus in der Regel anstrebt, ein Wirtschaftszweig, der gerade nach der Pandemie wieder voll boomt. Der Tourismusindustrie geht es eher darum, Bilder in Umlauf zu bringen, Sehnsüchte nach fernen Orten zu erzeugen. Und die Konsumentinnen und Konsumenten sollen diesen dann nachjagen. Vor diesen Verlockungen bin auch ich nicht gefeit. Tourismusdestinationen – auch sie sind ja nichts anderes als Sehnsuchtsorte – entstehen durch Bilder und Texte; das war früher übrigens nicht anders.
Weshalb reisen wir eigentlich? Welche Orte ziehen uns an? Und wie nehmen wir fremde Landschaften wahr? Um diese komplexen Fragen zu beantworten, lohnt es sich, einen Blick in die Geschichte des Reisens und des Tourismus zu werfen. Menschen reisten schon, bevor sie zu Touristen wurden. Allerdings waren die Ortverschiebungen damals zweckgebunden, die Beweggründe waren etwa Handel, Wallfahrten oder Eroberungen sowie – damit verbunden – unfreiwillige Formen der Migration aufgrund von Kriegen oder Verfolgung. Touristische Reisen hingegen dienten und dienen bis heute eher dem Vergnügen oder allenfalls der Bildung. Beispiel dafür ist die ab dem Spätmittelalter gängige Grand Tour. Die zunächst von Adeligen, später auch vom gehobenen Bürgertum praktizierte «grosse Reise» beinhaltete den Besuch von Denkmälern aus Antike, Mittelalter und Renaissance. Ziel war auch das Vertiefen von Sprachkenntnissen oder das Verfeinern von Manieren.
Ein klassischer Sehnsuchtsort ist für mich Sizilien – aus mehreren Gründen. Unter anderem war Sizilien eine wichtige Etappe auf der Italienreise (1786–1788) des Dichters Johann Wolfgang von Goethe, zu der er sogar den Zeichner Christoph Heinrich Kniep mitnahm. Das Erkunden dieser damals in Europa eher unbekannten Insel hatte auch eine mythische Konnotation: Sie sei der «Schlüssel zu allem», schrieb der Dichter am 13. Mai 1787 in sein Reisetagebuch. Nicht nur das Festhalten in Bildern (auch Goethe malte auf der Reise), auch seine Beschreibungen zeigen sehr schön, dass Sehnsuchtsorte und ihre Landschaften «künstliche» Produkte sind. Es sind konstruierte Orte, in denen sich Bilder zuweilen in Erfahrung wandeln können.
Susanna Koeberle
Einführungsreferate von Susanna Koeberle und Lena Unger, anschliessend Podiumsdiskussion, moderiert von Jean-Daniel Strub.
Eintritt 10.- / Mitglieder AFO frei