Wohnen in Zeitzeugen
Eine der wesentlichen Bauaufgaben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Schaffung von Wohnraum. Heute stellt sich den Eigentümern die Frage nach der Sanierung. Dabei geht es auch um den Umgang mit unserer Kulturgeschichte.
Beitrag vom 16. Dezember 2017
Text: Andrea Wiegelmann
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In seinem Roman «Die unsichtbaren Städte» lässt Italo Calvino Marco Polo in einem Gespräch mit dem chinesischen Kaiser Kublai Khan erläutern: «Ich habe auch über ein Stadtmodell nachgedacht, von dem sich alle anderen ableiten lassen: Es ist eine Stadt, die nur aus Ausnahmen besteht, aus Besonderheiten und Widersprüchen.» Städte also, das impliziert Calvino, bestehen mehr aus Ausnahmen denn aus Regeln. Und wenn wir mit offenen Augen durch unsere Städte gehen, dann können wir diese Widersprüche auch sehen. Sie sind es, die unsere Städte lebendig halten. Für die Architektur ist das Ausbalancieren dieser Widersprüche gerade im Hinblick auf den Erhalt von Bauten oftmals schwierig, vor allem dann, wenn die betreffenden Bauten ein schlechtes Image haben. Dies gilt für die Bauten der Nachkriegszeit, insbesondere die Bauten der 1970er-Jahre.
Die Nachkriegsjahre waren geprägt von einem regelrechten Bauboom, gerade im Wohnbau. Dies hat auch das Bauen mit dem Material befördert, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dank der entwickelten Möglichkeiten der Vorfertigung und des rationalisierten Bauens massenhaft zum Einsatz kam – dem Beton. Entwickeln diese Fassaden ihre Patina, gehen die Meinungen über deren Ästhetik weit auseinander. Das Zeigen der rohen Materialität, der Stil der Zeit, wird in weiten Teilen unserer Bevölkerung als klobig und abweisend empfunden. Ganz anders bei Architekten, die Bauten des sogenannten Brutalismus – so bezeichnet man den Stil dieser Zeit – werden heute in Ausstellungen und Publikationen gewürdigt. Doch es geht hier um weit mehr als um die Frage, ob schön oder hässlich: Die Bauten der jüngeren Epochen sind Kulturdenkmäler, denn individuelle und kollektive Erinnerungen stützen sich hauptsächlich auf Orte und Objekte und damit auch auf zeitgenössische Bauten. Während dies bei einzelnen Gebäuden, wie dem von Walter Förderer mit Rolf Georg Otto und Hans Zwimpfer realisierten Hauptgebäude der St. Galler Universität (1963), bewusst scheint, wird gerade der Wohnbau jener Zeit aus dem Fokus verloren. Darunter gibt es jedoch einige Beispiele, deren städtebauliche und bauliche Substanz herausragend ist und die als Zeitzeugen, als Teil der Geschichte einer Stadt, erhalten werden sollten: Die Siedlung an der Achslenstrasse in St. Gallen von Heinrich Graf ist eine davon.
Wachstum und Siedlungsplanung
In den 1970er-Jahren ist nicht nur die Schweizer Bevölkerung deutlich angewachsen, auch die Ansprüche an das Wohnen veränderten sich. Angesichts des Bedarfs an Wohnraum wurden zugleich Möglichkeiten des verdichteten Bauens attraktiv. Eine der bekanntesten Terrassensiedlungen an Hanglagen ist die Siedlung Halen (1961) bei Bern von Atelier 5. Eine weitere Form, diesem Anspruch gerecht zu werden, waren vertikal verdichtete Bauten, Wohnhochhäuser. Im Gegensatz zu den rigiden und klaren Siedlungsstrukturen anderer Epochen, wie etwa den Blockrandbebauungen der Gründerzeit, sind diese Wohnquartiere freie städtebauliche Kompositionen – Stadtlandschaften. Häuser, Strassen, Wege und Grünräume formulieren ein Ensemble, das aus dem Miteinander dieser Bestandteile lebt.
Auch die Siedlung Achslenstrasse, errichtet ab Mitte der 1960er- und bis in die 1970er-Jahre, folgt diesen Parametern. Heinrich Graf hat es verstanden, durch die Kombination von Zeilenbauten und Hochhäusern die Masse des Bauvolumens geschickt auf dem Areal zu verteilen. Die Anlage besteht aus vier Wohnhochhäusern und sechs Zeilen. Das Hochhaus zitiert mit seinem aufgefächerten Volumen das Wohnhochhaus Salute in Stuttgart (1963) von Hans Scharoun. Die drei zurückgesetzten und auf einem Sockel mit Garagen und Ladenflächen errichteten hinteren Wohnhochhäuser mit ihren Vorsprüngen in den oberen Geschossen erinnern an die Torre Velasca in Mailand (1958) von BBPR.
Die unterschiedlichen Wohnbauten bilden eine stimmige städtebauliche Anlage. Während die Zeilenbauten sehr schlicht gehalten und wenig spezifisch sind, fallen die Differenzierung der Fassaden und die Variation der Grundrisse bei den Hochhäusern umso mehr auf. Sie geht deutlich über die heute üblichen Standards im Wohnbau hinaus, die oftmals den immer gleichen Gebäudetyp mit der immer gleichen Fassadengliederung in einfallslosen Platzierungen auf Grundstücken und Arealen repetieren.
Erweiterter Denkmalbegriff
Die Siedlung an der Achslenstrasse ist inzwischen in die Jahre gekommen und es stellt sich die Frage nach einer massvollen Instandsetzung, die den Bewohnern und Eigentümern – die Wohnungen sind in Stockwerkeigentum vergeben – einerseits einen zeitgemässen Komfort gewährleistet und andererseits die Bauten in ihrem Ausdruck und ihrer Komposition erhalten können.
Die Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege anerkennt in ihren Leitsätzen, dass die «Existenz des Denkmals in seiner möglichst vollständigen überlieferten Materie mit all ihren Zeitspuren» eine wesentliche Voraussetzung für das Erkennen seiner Qualitäten ist. Im Falle von Siedlungen wie der Achslenstrasse müsste der Denkmalbegriff auf das gesamte Ensemble ausgeweitet werden. Denn erst aus dem Zusammenspiel der Bauten mit ihrem Umfeld ergeben sich ihre Zeugnisqualitäten.
Ein solcher Denkmalbegriff wie auch eine mögliche damit verknüpfte Förderung von Instandsetzungsmassnahmen müsste eben diese «immateriellen» Aspekte solcher Stadtlandschaften berücksichtigen.
Nur so wird es möglich sein, die Wohnquartiere jener Zeit gesamthaft zu erhalten. Die Stadt, die aus einem solchen Verständnis erwachsen kann, ist eine, die mit ihrer Geschichte wächst, mit ihren Ausnahmen, Besonderheiten und Widersprüchen.
Es geht hier um weit mehr als die Frage, ob schön oder hässlich.
Bildnachweis
Hanspeter Schiess