Wie weiter im Weiler
In den meisten Weilern der Schweiz darf nicht mehr neu gebaut werden. Zwei Beispiele aus dem Thurgau zeigen, wie es trotzdem geht, ohne dass Kulturland und Ortsbild zerstört werden.
Beitrag vom 23. Februar 2023
Text: Ulrike Hark
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Das Feuer bricht an einem Donnerstag im März aus: Die Scheune Lindenhof im Weiler Oberaach bei Amriswil steht in Flammen. Das Wirtschaftsgebäude aus dem 19. Jahrhundert brennt schliesslich völlig nieder. Das ist fünf Jahre her. Der Bau war Teil eines denkmalgeschützten Ensembles, zu dem heute noch ein Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert, eine Remise sowie ein historischer Brunnen mit eigener Quelle gehören. Namensgeber ist die alte Linde, die das Ensemble prägt.
Dass die Scheune wieder aufgebaut werden sollte, darüber war sich die Eigentümergemeinschaft rasch einig. Die vier Geschwister wollten das Erbe der Eltern erhalten, aber mit einem Ersatzneubau auch eine zeitgemässe und vor allem gemeinschaftliche Nutzung ermöglichen. Eine komplexe Aufgabe an diesem sensiblen Ort. Die Vorgabe für den Architekten Lukas Imhof und den ortsansässigen Generalunternehmer und Holzbauer Krattiger lautete deshalb: In Würdigung der bäuerlichen Geschichte soll der neue Bau Volumen und Erscheinungsbild des Vorgängers beibehalten. Zudem müssen sich Familien ohne hohe Einkommen die Mieten leisten können.
Fünf Familien unter einem Dach
Die Beteiligten nahmen hier bereits vorweg, was das Planungs- und Baugesetz seit Kurzem bei Umbauten in Weiterzonen verlangt: Lösungen, die das Ortsbild schützen und kein Kulturland verbauen. Beim Lindenhof schreibt der neue Holzbau nicht nur mit der äusseren Silhouette die Geschichte weiter, sondern auch durch viele konstruktive und gestalterische Elemente. Sie sind Referenzen an die bäuerliche Bautradition der Gegend – so zum Beispiel die Fassaden aus Fichtenholz, die Holzverstrebungen, die das ausladende Dach stützen, oder die mit roten Eternit-Wellplatten verkleidete Wetterseite. Vier Meter hohe Glastüren markieren die Stellen, wo sich früher die grossen Scheunentore befanden.
Bei aller Rückbesinnung schaut der neue Lindenhof kühn in die Zukunft: «Er könnte ein Modell sein für ein neues, verdichtetes Bauen auf dem Land», sagt Architekt Lukas Imhof. Fünf Familien wohnen hier unter einem Dach. Die Wohnungen (sie kosten 2100 Franken monatlich für fünfeinhalb Zimmer) liegen nebeneinander und erstrecken sich über drei Geschosse. Alle richten sich zum gemeinsamen Innenhof mit dem Brunnen aus, der eine Sensation speziell für die Kinder ist. Zwei Einheiten sind mit ihrem einsehbaren Wohn-Ess-Raum besonders exponiert. Es braucht schon etwas Mut, sich hinter der Glastür auf dem Sofa zu lümmeln. Doch dafür hat man die Kinder im Blick, die begeistert um den Brunnen rennen und «Fangis» spielen.
Bei normalen Stockwerkhöhen wäre für die Zimmer unter dem Dach keine Aussicht möglich gewesen, sagt der Architekt. Er entschied sich deshalb für eine Lösung mit Split-Levels – einer Aufteilung der Räume auf Halbgeschosse mit versetzten Ebenen. Dadurch entstand ein reichhaltiges Gefüge mit interessanten Blickbezügen und grosszügigen Räumen, die Qualitäten eines Eigenheims haben. So reagiert der neue Lindenhof intelligent auf den Bestand.
Neuzonierung: Minus die Hälfte
Aber nicht überall herrscht Klarheit, wie ein Weiterwohnen in den Schweizer Kleinsiedlungen aussehen soll, denn vielerorts ist die Zonierung unklar. Die meisten der bäuerlich geprägten Weiler, die mindestens fünf Häuser aufweisen müssen, befinden sich in einer Bauzone. Das jedoch steht im Widerspruch zum eidgenössischen Raumplanungsgesetz, welches die Zersiedelung der Landschaft stoppen soll. Der Bund hat deshalb die Kantone wiederholt gemahnt, die Zonierung ihrer Weiler und Aussenwachten anzupassen.
Dieses Verfahren fand im Thurgau im letzten September einen Abschluss, indem der Grosse Rat die Vorlage der Regierung guthiess. Demnach fällt von den über 300 Weilern knapp die Hälfte aus dem Baugebiet. In der neuen Erhaltungszone sind nur noch Umbauten und Ersatzneubauten möglich, sofern sie das Ortsbild bewahren. Anders als im Thurgau ist das Prozedere beim grossen Nachbarn, dem Kanton Zürich, deutlich weniger weit fortgeschritten. Auch hier müssen über 300 Kleinsiedlungen überprüft werden – zum Entsetzen vieler Hausbesitzer*innen und Gemeinden, die Enteignungen und den Verlust von Bauland befürchten.
Privatsphäre in Harmonie mit dem Drumherum
Bauland verloren hat auch die Restauratorin Doris Warger im Weiler Hub bei Frauenfeld. Als sie vor einigen Jahren ein grosses Stück Land mit zwei alten Scheunen kaufte, lag ein Teil davon noch in der Bauzone. Inzwischen ist nicht mehr erlaubt, dort neu zu bauen. Die Bauherrin nimmt es gelassen – der Verlust geht mit dem Gewinn einher, dass sie von ihrer Wohnung aus nun einen weiten Blick in die unverbaute Landschaft hat.
Die engagierte Bauherrin hat viel Herzblut und Gedankenarbeit in das Projekt investiert, der Architekt Paul Knill aus Herisau stand ihr als versierter Fachmann für Umbauten zur Seite. In die beiden Scheunen wurden drei Eigentumswohnungen integriert. Zwei davon liegen in der grossen Remise, eine in der kleineren Scheune, die früher als Schafstall genutzt wurde. Die äussere Form der Ersatzneubauten hält sich streng an die alte Kubatur. Überdachte Lauben markieren Wohnlichkeit, und die mit beweglichen Holzlamellen verschliessbaren Fassadenteile lassen das moderne Innere wie von Zauberhand verschwinden. Bis auf die Dachkonstruktion, die wieder eingebaut wurde, entstanden die Gebäude in Holzelementbauweise von Grund auf neu.
Im Gegensatz zum gemeinschaftlich orientierten Lindenhof ist das Projekt in Hub auf Individualität und Privatsphäre ausgerichtet. Man lebt jeweils auf zwei Geschossen in weitläufigen Grundrissen, die als Rundlauf organisiert sind – diskrete Schiebewände machen Zonierungen möglich. Eine gekonnt gemachte «Untertreibung» beherrscht das Interieur: gipsgebundene Spanplatten für die Wände etwa, oder Bad und Küche, die als Box frei im Raum stehen. Entfernt man sich vom Ensemble, sieht man das Dach aus recycelten Biberschwanzziegeln schimmern – in Harmonie mit den alten Häusern ringsum.
Bildnachweis
Beni Blaser