Wenn Tüftler sich treffen
Der neue Werkhof Firma Kradolfer in Weinfelden ist eine Hommage ans Gipserhandwerk und die Firmenarchitektur im besten Sinne.
Beitrag vom 23. November 2020
Text: Deborah Fehlmann
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Auf dem Werkhof ist es still, die Handwerker sind um acht Uhr morgens längst ausgeflogen. Aus dem Erdgeschoss des Neubaus «eiszueis» dringt Musik nach draussen. Sie kommt aus unsichtbaren Lautsprechern unter der hell verputzten Decke des «Forums», wie Reto Kradolfer seinen neuen Ausstellungs- und Besprechungsraum nennt. Die Decke klingt nicht nur, sie scheint auch in Bewegung: Die punktförmigen Deckenleuchten versinken tief in der vermeintlich weichen Akustikputzmasse. An der Rückwand des Raums wölbt sich die Decke in zwei Richtungen und senkt sich auf ein raumlanges Präsentationsregal ab. Dort reihen sich allerlei ungewöhnliche Putzmuster auf. «Die Evolution unserer letzten Aufträge», erklärt der Gipsermeister.
Kradolfers Firma in Weinfelden bietet zwar alle gängigen Gipserarbeiten an, doch ihn fasziniert das Tüfteln mit dem Material und seinen Verarbeitungstechniken. Als Spezialist für die Restaurierung von historischem Stuck und Verputz ist der Name Kradolfer schon seit den 1960er-Jahren bekannt. In jüngerer Zeit steht er auch für die Entwicklung von neuen Oberflächen. «Ich will unsere Kompetenzen aus der Restaurierung auf das heutige Bauen anwenden», sagt er. Wie das geht, führt er mit dem «eiszueis» von Harder Spreyermann Architekten gleich selber vor. Kradolfer ist mit der Gipserei aufgewachsen. Seine Eltern gründeten die Firma 1961. Ein lang gestrecktes Vielzweckbauernhaus in einem Weinfelder Wohnquartier war ihnen Wohnung und Betriebsgebäude zugleich. Es ist noch immer der Angelpunkt des Betriebs und gerade frisch saniert.
Weiterbauen am Familienunternehmen
Auf der Rückseite des Hauses steht seit zwei Jahren sein neues Gegenüber. Das «eiszueis» übernimmt vom Altbau die Länge und das Satteldach. Die Fassade aus grob modelliertem Kellenwurf- und feinem Waschputz, die langen Fensterbänder und das feingliedrige Fotovoltaikdach übersetzen die lokal geprägte Architektur aber in eine durchwegs neuzeitliche Sprache. Zwischen den Bauten liegt der Werkhof als schlichter Asphaltplatz.
Nach dem Generationenwechsel in der Firma und dem Kauf des Nachbargrundstücks betraute Kradolfer die Architekten Harder Spreyermann 2011 mit einer Machbarkeitsstudie für die Entwicklung des Areals. Zuvor hatte er unter anderem für die Umbauten der Architekten in der Kartause Ittingen die Gipsoberflächen erstellt. «Der Bau sollte unsere Firmenstrategie und unseren hohen Anspruch ans Handwerk repräsentieren», sagt Kradolfer. «Und er sollte flexibel sein, um andere Nutzungen zuzulassen.» Die Architekten spielten diverse Szenarien durch; auch eine komplette Neubebauung stand zur Debatte. Doch je länger sie sich mit dem Altbau auseinandersetzten, desto ferner rückte die Idee, ihn abzubrechen. «Der Bau hat ein grosses Nutzungspotenzial. Er liess sich gut instand stellen und auf die heutigen Bedürfnisse des Betriebs anpassen», erklärt Architektin Regula Harder. So dient die grosse Scheune heute wie früher als Lager. Im früheren Wohnteil befinden sich nebst dem Empfang Büroräume, Garderoben und ein Aufenthaltsraum für die Mitarbeitenden. Einen Teil des Obergeschosses und die Wohnung im Dachgeschoss vermietet Kradolfer.
«Eiszueis» verbindet Marketing und Baukultur
Beim Altbau stand die Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Struktur im Zentrum des Entwurfs. Dagegen trägt der Neubau dem Wunsch des Bauherrn nach Nutzungsflexibilität mit einem eigenständigen Raumkonzept Rechnung. Die Erschliessung, zwei Teeküchen und die Nasszellen ordneten die Architekten auf kleinem Raum hinter den geschlossenen Giebelwänden an. Dazwischen sind die beiden Geschosse im Rhythmus der Fassadenstützen frei unterteilbar. Die Fensterbänder im Obergeschoss strecken sich beidseitig über die ganze Gebäudelänge, das Erdgeschoss öffnet sich mit raumhohen Fenstertüren nur gegen den Werkhof. Hier hat das «eiszueis» seine Adresse. Ein schlichtes Schild kündigt Frauenfitness im Obergeschoss an. Nur wenige Sportstudios können sich eines so extravaganten Treppenhauses rühmen: Die Wände und ausgerundeten Ecken des hohen Eingangsraums sind mit dunklem Kalkputz überzogen, die geschwungene Treppenbrüstung setzt sich in hellem Gips davon ab. Im seitlich einfallenden Tageslicht erscheinen die Oberflächen samtweich. Im Kontrast dazu fallen aus runden Wandöffnungen scharf umrissene Lichtkegel auf die Treppenstufen. Ein breites Anwendungsspektrum der Baustoffe Gips und Kalk ist hier auf kleinem Raum verdichtet. Für die Architektin war das eine neue und spannende Herausforderung: «Wir haben den Raum plastisch in das Volumen einbeschrieben.»
Das kleinräumige Treppenhaus führt direkt ins Obergeschoss, von dem der grösste Teil zurzeit als Halle genutzt wird. Hier stehen Fitnessgeräte unter den mit Akustikelementen verkleideten Dachschrägen und Lehmputz bedeckt die massiven Fensterbrüstungen – es sind zwei weitere Oberflächen aus Kradolfers Palette, die sich nahtlos in die Architektur einfügen. Das Herzstück des Baus ist aber zweifellos das «Forum» im Erdgeschoss mit seiner gewölbten Decke. Dem Namen getreu soll es dem produktiven Austausch mit Bauherrschaften und Architekten dienen. «Und von den gemeinsam erdachten Lösungen fertigen wir in der Stuckwerkstatt nebenan gleich einen Prototyp an», schmunzelt Kradolfer. Eins zu eins eben.
Harder Spreyermann ist es gelungen, eine Marketingstrategie in eine schlüssige architektonische Form zu giessen. Ihr städtebaulicher Ansatz respektiert das Quartier und die Firmengeschichte, der Erhalt des Altbaus beweist Wertschätzung für das Vorhandene. Der Neubau löst den Anspruch ein, die historische Vielfalt des Gipserhandwerks in der zeitgenössischen Architektur wiederzubeleben. Und nicht zuletzt steht er mit Stromproduktion auf dem eigenen Dach und flexibler Raumstruktur für ökologische und gesellschaftliche Nachhaltigkeit. Wenn Werbung so aussieht, bleibt als Fazit nur: Mehr Werbung, bitte!
Bildnachweis
Hanspeter Schiess