Architektur Forum Ostschweiz

Strassenbau als Städtebau

Die neue Kantonsstrasse in Arbon ist mehr als ein Verkehrsstrang, der die Altstadt entlastet. Dank der Zusammenarbeit vieler Akteure wurde sie zum städtebaulichen Schlüsselprojekt. Sie gibt den neuen Entwicklungsgebieten eine Adresse.

Beitrag vom 16. Mai 2015

Text: Martin Tschanz

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Über Städtebau wird in Zeitungen kaum geschrieben, es sei denn in Zusammenhang mit historischen Stadtbildern. Ein Grund dafür ist, dass diese Kunst extrem langsam ist. Es dauert Jahrzehnte, oft auch Generationen, bis die Folgen städtebaulicher Entscheide sichtbar erden.

Zudem ist Stadtentwicklung ein dynamischer Prozess, bei dem sich die Parameter ständig wandeln. Verkehr, Ökonomie, Raumplanung und Politik spielen dabei ebenso eine Rolle wie Architektur und Gestaltung. Deshalb lässt sich eine Stadtgestalt, wenn sie denn schliesslich sichtbar wird, kaum je auf einen einzelnen Autor zurückführen.

Zudem sind die einschlägigen Entscheidungen dannzumal meistens bereits vergessen oder so sehr zur Selbst­verständlichkeit geworden, dass sie nicht mehr der Rede wert sind.

Ein Mehrwert für alle

Bei der neuen Kantonsstrasse in Arbon jedoch wird Städtebau derzeit augenfällig. Durch Koordination und Rücksicht­nahme der Einzelnen entsteht hier ein Mehrwert für alle. Damit ist sie ein guter Beweis dafür, dass Städtebau trotz aller Schwierigkeiten auch heute noch möglich und sinnvoll ist, sogar über Gemeinde- und Kantonsgrenzen hinweg.

Die technisch anmutende Bezeichnung

«Neue LinienführungKantonsstrasse» zeigt, dass ein verkehrstechnisches Problem am Anfang des Projekts stand. Früher führte der Verkehr der Bodensee-Hauptstrasse mitten durch die historische, als von nationaler Bedeutung eingestufte Altstadt, die dadurch faktisch zweigeteilt wurde. Eine neue Trassee parallel zur Bahnlinie versprach eine Entlastung und hatte weitere Vorteile. Sie ist einfach und direkt und sie beanspruchte kaum neue Flächen.

Zudem erlaubte sie eine gute Erschliessung der wichtigsten Entwicklungsgebiete: der damals brach­liegenden Industrie­areale König und Saurer WerkZwei. Rasch war daher klar, dass die neue Strasse ein Schlüssel für den Aufbruch der Stadt ins post­industrielle
Zeitalter sein würde.

Eine Studie im Jahr 2007 zeigte aber auch, dass die technische Optimierung allein keine Lösung brachte. Deutlich wurde dies besonders am Stahelplatz, dem eigentlichen Tor zur Altstadt. Die verkehrs­technische Best­variante schlug hier einen schräg über den Bahneinschnitt ragenden Kreisel vor. Eine Rampe mit begleitenden Schall­schutz­mauern hätte überdies die bestehenden Bauten stark beeinträchtigt. Damit wäre das von der Stadt formulierte Ziel für lange Zeit verbaut worden, die historische Wunde des Bahneinschnitts zu heilen und dadurch die Altstadt besser mit den Aussen­quartieren zu verbinden. Mit inner­städtischem Charakter In diesem Moment wurden die Architekten Staufer & Hasler beigezogen. Sie stellten der technischen Lösung der Ingenieure einen Idealplan gegenüber, der mit einer grosszügigen, städtischen Allee und beidseitiger Bebauung auf die städtebaulichen Möglich­keiten einer solchen Strasse aufmerksam machte.

Das Leitbild einer Kantons­strasse mit innerstädt­ischem Charakter war geboren. Nicht von ungefähr beginnen historische Handbücher zum Städtebau oft mit dem Thema Strasse. Strassen sind nicht nur Erschliessungs­adern, sondern auch Lebensräume, die den Charakter und die Identität einer Stadt prägen. Das ist heute von besonderer Bedeutung, da die aktuelle Architektur so vielfältig ist, dass Neubauten eher die Tendenz haben, zueinander in Konkurrenz zu treten, als gemeinsam ein Ganzes zu erzeugen. Bei der neuen Kantons­strasse sind es vor allem die Linden, die ihre Eigenheit ausmachen – vielleicht wird sie ja dereinst «Lindenstrasse » heissen, sollte sie doch noch mit einem eigenen Namen beehrt werden. Die Bäume stehen in einer Mittel­reihe, die an wichtigen Stellen, wo sich die Strasse platzartig ausweitet, verdoppelt wurde. Beim Bahnhof zum Beispiel entstand so eine Baum-Insel, die dem projektierten Bus-Terminal Halt gibt. Zusammen mit dem vom Architekten Max Dudler gestalteten Zentrum Rosengarten und dem mächtigen Hamel-Gebäude, in dem dereinst die Passage zum Bahnhof mündet, ist hier eine neue Stadtmitte am Werden.

Dass dieser Platz auch ein verkehrstechnisch notwendiger Kreisel ist, dessen langgezogene Gestalt mit dem Niveau-Übergang über die Bahn zu tun hat, darf dabei vergessen werden. Am Stahelplatz, wo die Über­arbeitung des Strassen-Projekts ihren Anfang genommen hatte, ermöglichte die Verlagerung der Rampe nach Norden eine überaus elegante Lösung. Der Achsbezug von Hochhaus über Platz und Brücke zur Altstadt blieb gewahrt, die Entflechtung der Verkehrsströme ist vorteilhaft und die Übe­rdeckung der Strasse schafft einen Mehrwert für das Quartier.

Mit grossem Geschick konnte eine Lärmschutz­mauer in das Ganze integriert werden, so dass sie zusammen mit der Brücke und der hangseitigen Stützmauer das Portal der Unterführung bildet.

Zum Ganzen zusammenführen

An dieser Stelle zeigt sich exemplarisch, was Gestaltung im Ingenieurbau zu leisten vermag. Sie ist nicht etwas Aufgesetztes, sondern schafft ihre Qualität aus den komplexen Gegeben­heiten heraus, die sie in ein Ganzes zusammenzuführen vermag. Die hangseitige Stützmauer zum Beispiel lässt in ihrem unteren Teil die grobe Bauweise aus sich überschneidenden Bohrpfählen erahnen, während der Kranz darüber exakt geformt ist. Nicht von ungefähr erinnert er an ein klassisches Gebälk: Er erlaubt ein präzises Auflagern von Decke und Brüstungen und dient der Verankerung der Schrägpfähle, welche die Mauer sichern. Tektonik nennt die Architekturtheorie diese Kunst, die Technik und die in ihr wirkenden Kräfte in Anschaulic­hkeit und Schönheit zu überführen.

Bäume als Erkennungs­merkmal Bäume, eine Doppelreihe auch hier, begleiten den Schwung der Rampe und fassen gleichzeitig den Platzraum und die Einfahrt zur Altstadt. Der Stahelplatz bildet den nördlichen Auftakt für die Raumfolge der neuen, fast geradlinig verlaufenden Strasse, die im Süden, jenseits der Aach, wiederum mit einem Kreisel ihren Abschluss findet. Dort, bereits auf dem Gemeinde­gebiet von Steinach und damit im Kanton St. Gallen, wird bald schon ein Hochhaus den Eingang zur Stadt Arbon markieren.

Dazwischen liegt eines der wichtigsten Entwicklungs­gebiete der Region, und die neue Strasse bildet dessen Rückgrat. Dank ihr werden die hier entstehenden Gebäude eine Adresse haben. Das ist Städtebau! Weil die Strasse eine eigene Identität hat, muss nicht jedes Haus für sich allein um Aufmerk­samkeit buhlen. Die noch etwas schüchtern, kläglich im Zugwind stehenden Bäumchen werden rasch wachsen. Sie sind die Vorboten der künftigen Stadt.

Bildnachweis

Hanspeter Schiess

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