Sinnstiftende Irritationen
Wenn uns Bauten Rätsel aufgeben, ist meist die Kunst im Spiel. Warum das gut ist, zeigt eine kleine Rundschau aktueller Kunst-am-Bau-Projekte.
Beitrag vom 2. Februar 2019
Text: Marcel Bächtiger
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Neulich kam die Kunst dem Bau in die Quere: Norbert Möslangs blau blinkende Installation «Patterns» am Bahnhof St. Gallen, besser bekannt als binäre Uhr, besetzte mit der Stirnseite des neuen Glaskubus just jenen Ort, der für eine grosse Anzeigetafel mit dem aktuellen Busfahrplan vorgesehen war. Man montierte die Anzeigetafel schräg unterhalb der letzten Zeile von Möslangs leuchtenden Symbolen, es schmerzte in den Augen. Man liess sich eines Besseren belehren, demontierte die Tafel wieder und hängte sie an die seitliche Fassade des Glaskubus. Ein Sieg für die Kunst? Vordergründig ja, jedoch muss man gleich anfügen, dass mit einer besseren Abstimmung zwischen Auftraggebern, Planern und Künstler der Konflikt von vornherein vermeidbar gewesen wäre. Auch gereichte die Geschichte dem Kunstwerk nicht zum Vorteil, fand sich die binäre Uhr doch plötzlich in einer unmöglichen Interessenabwägung wieder: Ist die Information über die nächsten Abfahrtszeiten für den Reisenden nicht sinnvoller und nützlicher als eine Uhr, die zu allem Unbill niemand lesen kann? Das mag durchaus sein, nur würde unter dem Banner der blossen Nützlichkeit unsere Welt schnell zu gespenstischer Einfachheit gerinnen.
Aufforderung zur Auseinandersetzung
Die «Uhr, die nur Ärger bringt» (so ein St. Galler Parlamentarier) ist ein typisches Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen sich zeitgenössische Kunst am Bau immer wieder konfrontiert sieht: Die Frage nach den Kosten steht schnell im Raum, die nach der Notwendigkeit ebenfalls. Dabei gehört die Nutzlosigkeit zum Wesen der Kunst, meint allerdings nur den Nutzen in seiner banalsten Form. Indem ein Kunstwerk Sinn und Geist der Betrachter stimuliert, indem es Gewissheiten in Frage stellt und neue Perspektiven eröffnet, erfüllt es fraglos einen zivilisatorischen Zweck. Im öffentlichen Raum kommt dies besonders zur Geltung: Die Aufforderung zur Auseinandersetzung mit dem Ungewohnten richtet sich hier nicht an den einzelnen Sammler oder die Kunstliebhaberin im Museum, sondern sie adressiert ungefragt die Allgemeinheit. Dass ein Kunstam-Bau-Projekt nicht nur Wohlgefallen, sondern auch Irritation hervorruft, ist deshalb nicht nur nachvollziehbar, sondern in gewissem Mass auch wünschenswert. Möslangs Uhr ist eben nur zur Nebensache eine Uhr, sie ist zunächst und vor allem ein Kunstwerk, das uns alle möglichen Rätsel aufgeben darf, darunter auch jenes nach der unablässig fortschreitenden Zeit.
Auf jeden Fall ist gute Kunst am Bau mehr als blosse Dekoration der Architektur. Tatsächlich überschreitet sie immer häufiger die Grenze zur Konzept- und Aktionskunst. Ebenfalls eine Uhr entsteht derzeit beispielsweise in Klosters, wo das Künstlerduo Remo Albert Alig und Marionna Fontana den Studienauftrag für ein Kunst-am-Bau-Projekt des neuen Schulhauses gewonnen haben. Auch bei ihrem Werk stehen Zeit, Dauer und Wandel als Themen im Zentrum, aber anders als bei Möslang weist die Technik nicht in die digitale Zukunft, sondern zurück auf die vielleicht ursprünglichste Erfahrung von Zeit und Raum. Im Boden des Pausenplatzes wird eine Sonnenuhr eingelassen, welche die Zeit anzeigt, sobald eine Schülerin in der Mitte steht und ihren Schatten auf das Zifferblatt wirft. Der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung von Licht und Schatten steht hier die Flüchtigkeit eines Kunstwerks gegenüber, welches unter Mitwirkung des Publikums entsteht und mit seiner Absenz in den Ruhezustand zurückkehrt.
Auswüchse der Fantasie
Das Werk steht in einer langen Tradition von Schulhauskunst: Schon früh schmückten Wandbilder die Lehranstalten der Schweiz, die Moderne brachte abstrakte Farben und Formen, später folgten frei geformte Brunnen oder farbige Spielskulpturen auf dem Pausenplatz. Für den Einbezug zeitgenössischer Kunst als beispielhaft gelten darf die Bündner Kantonsschule in Chur, bei deren Sanierung und Erweiterung die Kunst schon früh mitgedacht wurde: Das Hochbauamt schrieb für die verschiedenen Häuser und Neubauten nicht nur Architektur-, sondern auch Kunstwettbewerbe aus, was sich in der weitläufigen Schulanlage spürbar niederschlägt. So winden sich nun in der kürzlich eröffneten neuen Mensa und Mediothek merkwürdige Treppen ums Eck, Leitern hängen von der Decke und Türen führen ins Nirgendwo. Auf den Beton gemalt hat sie mit eigenwilligem Strich die Künstlerin Zilla Leutenegger: perspektivische Illusionen, die den eleganten Bau des Architekten Andy Senn gleichzeitig konterkarieren und in seiner schlichten Ästhetik stimmig ergänzen, rätselhafte Ausstrahlungen der Fantasie auch, welche die Gedanken des einen oder anderen Gymnasiasten in unbekannte Gefilde führen.
Das Bemalen von Wänden, bei Zilla Leutenegger in fast schon naiver Manier vorgeführt, ist gleichzeitig ein Ur-Moment von Kunst am Bau. Bedürfte es dafür eines anschaulichen Beweises, so fände man ihn im Wirtshaus zur Krone in Hundwil, wo wir auf das Werk «Triade» von Vera Marke stossen. Das wandfüllende Fresko offenbart seinen Sinn nämlich erst im Zusammenspiel mit der historischen «Blauen Stube» im Obergeschoss, wo der Gast vollends von bemalten Wänden und Decken umfasst wird und neben vielem anderen auch die Marmorimitationen bestaunen kann, die wiederum vom zeitgenössischen Fresko im unteren Stock imitiert werden. Von praktischem Nutzen ist hier wenig, anregend vieles. Und lehrreich dazu: eine Recherche des Historikers Thomas Fuchs über die Bilder aus ferner Vergangenheit gehört mit zum Werk.
Die Arbeit von Vera Marke wurde mit dem letzten «Prix Visarte» ausgezeichnet, dem Preis des Künstlerverbands für herausragende Kunst am Bau und Kunst im öffentlichen Raum. Visarte-Präsident Josef Felix Müller, ein unermüdlicher Kämpfer für die Wertschätzung, die Vermittlung und das Verständnis von Kunst am Bau, verweist in diesem Zusammenhang gerne auf die Datenbank mit sämtlichen eingereichten Projekten, die auf der Website des «Prix Visarte» einsehbar ist. Auch das ist eine Aufforderung zur Auseinandersetzung: Es gäbe noch manches zu entdecken.
Bildnachweis
Hanspeter Schiess