Sensible Fügung
Mit der neuen Gemeindekanzlei in Urnäsch hat das Architekturbüro Staufer & Hasler ein passgenaues Stück Dorf entworfen. Sie gliedert sich mit angrenzendem Wohnhaus und Kanzleiplatz in das geschützte Ortsbild ein – und zeigt sich erst auf den zweiten Blick als Neubau.
Beitrag vom 30. Mai 2024
Text: Nele Rickmann
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Das Ende der historischen Gemeindekanzlei in Urnäsch wurde 2015 endgültig besiegelt: Zwei voneinander unabhängige Fachgutachten bestätigten bauliche Mängel, die sich bereits ein paar Jahre zuvor abgezeichnet hatten. Das dazumal fast 400 Jahre alte Pfarr- und Rathaus wurde als statisch instabil eingestuft. Auch energetisch war das nach dem Dorfbrand im 17. Jahrhundert errichtete und seit 1960 als Gemeindekanzlei genutzte Bauwerk nicht mehr zu ertüchtigen. Daraufhin waren sich die zuständigen kantonalen Stellen wie auch die Denkmalpflege einig: Das historische Gebäude muss abgerissen werden. Keine leichte Entscheidung, denn der Ortskern von Urnäsch, der sich aus Kanzlei, Kirche und Dorfplatz mit angrenzenden Wohnhäusern in traditioneller Holzbauweise zusammensetzt, gilt als geschütztes Ortsbild von nationaler Bedeutung.
Ein Ersatzneubau an gleicher Stelle musste das Problem lösen und der Gemeindekanzlei ein zeitgemässes Raumprogramm bieten. Nach Süden hin sollte dieser mit einem Mehrfamilienhaus ergänzt werden. Um Rat bat man daraufhin die Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur. Unter Christian Wagner, Professor für Architektur und Leiter des Bereichs Ortsbildentwicklung und Siedlungsplanung am Institut für Bauen im alpinen Raum, wurde eine Studie zur Volumetrie und Ortsbildverträglichkeit erarbeitet. Anschliessend wurde ein Projekt für den Neubau der Gemeindekanzlei und das südseitige Wohnhaus mit gemeinsamer Tiefgarage ausgeschrieben. Den Auftrag erhielt 2017 das Frauenfelder Architekturbüro Staufer & Hasler.
Die neue Kanzlei und sechs Monate später auch das Wohnhaus konnten 2022 bezogen werden. Seither vermitteln die Neubauten zwischen historischem Kontext und zeitgenössischen Anforderungen. Mit Erfolg, denn Urnäsch erhielt als «schönste Gemeinde» mit Fertigstellung der neuen Bauten noch im selben Jahr die Auszeichnung «Schweizer Dorf des Jahres».
Urnäscher Holz und Handwerk
Erreicht man aus Richtung Herisau das Zentrum von Urnäsch, bildet die Gemeindekanzlei mit dahinterliegender Kirche den Auftakt zum historischen Dorfkern. Der Neubau unterscheidet sich in seinem Volumen nur unwesentlich von seinem Vorgänger. Das Dach, die Fassadengliederung und die Farbgebung wurden den benachbarten Gebäuden angeglichen. Die Fassade der Kanzlei, holzgetäfelt und hell gestrichen, bildet mit der weissen Kirche nun ein Ensemble öffentlicher Bauten, das sich klar von den farbigen Wohnhäusern der Umgebung absetzt.
Der neugestaltete Dorfplatz zwischen Kirche und Kanzlei unterstützt als öffentlicher Raum diese Verbindung. Von dort aus gelangt man über eine schmale Treppe auf das topografisch niedriger gelegene Niveau des Kanzleihofs, welcher die Gemeindeverwaltung auf ihrem untersten Geschoss mit dem neuen Mehrfamilienhaus verbindet. Die darunterliegende Tiefgarage ist für beide Nutzerschaften über das Wohnhaus zugänglich und bildet einen gemeinsamen Betonsockel, auf dem die Neubauten in Holzbauweise aufsitzen.
Als öffentliches Gebäude repräsentiert die Kanzlei die Gemeinde Urnäsch am Fusse des Säntis. Da die Region über die Jahrhunderte von Forstwirtschaft und Holzbau geprägt wurde, hat man besonderen Wert auf die Verwendung von lokalem Holz aus den Urnäscher Wäldern gelegt. Neben ökologischen Aspekten bekräftigte die gezielte Förderung des regionalen Handwerks die Entscheidung, den Neubau der Kanzlei in Ständerbauweise aus Vollholz durchzuführen.
Ortsbezüge bis unters Dach
Die Wichtigkeit des Holzes kommt auch im Inneren des Neubaus zum Ausdruck. Das rustikale Ambiente des Vorgängerbaus wird aufgegriffen, aber modern interpretiert. Die Bohlendecken und Holzvertäfelungen an den Innenwänden bleiben unverputzt sichtbar, weisse und rote Farbakzente gliedern die Räume. Der gemeinsame Erschliessungsraum auf allen Bürogeschossen ist sogar gänzlich in roter Farbe gefasst und verleiht dem Gemeindezentrum vor allem im Erdgeschoss, wo dieser als zentraler Empfangsraum fungiert, eine repräsentative Eingangssituation. Um die zentrale Erschliessungszone mit Treppenhaus und Aufzug gliedern sich je nach Geschoss vier bis sechs Büroräume, die durch einen Verbindungsgang an beiden Stirnseiten des Gebäudes miteinander verbunden sind. Diese funktionieren so unabhängig von den Wegen der Besuchenden und können flexibel genutzt werden.
Gänzlich anders ist das Dachgeschoss gegliedert, denn hier befindet sich das Herzstück der Kanzlei: der Gemeindesaal. Er erstreckt sich über die gesamte Breite des Gebäudes und bis unter das Dach. Ein von den Architekten bewusst in hellblauer Farbe inszeniertes, raumgreifendes Tonnengewölbe versteckt hier nicht nur die Unterseite der Dachkonstruktion, sondern lässt den Gemeindesaal auch repräsentativ hervorstechen. Hohe Fenster lassen weite Ausblicke auf die Umgebung und den historischen Dorfplatz von Urnäsch zu. Um den Gemeindesaal gliedern sich ein Besprechungsraum, Magazin, Küche und WCs. In farbigen Oberlichtern spiegeln sich die Farbnuancen des Urnäscher Dorfplatzes wider. Hier – an fast höchster Stelle, kurz unter dem First – wird der Bezug zum Kontext, der historischen Substanz und dem Urnäscher Ortsbild noch einmal aufgegriffen.
Bildnachweis
Ladina Bischof