Schwarz ist nicht gleich schwarz
Zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Umbauten – eine Wohnung aus den 1970er-Jahren in Vaduz und ein Strickbau von 1750 in Amden – demonstrieren im Kleinen, wie zeitgenössische Baukunst heute aussehen kann.
Beitrag vom 24. Mai 2023
Text: Stefanie Haunschild
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Rund 40 Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses gehen auf das Konto der Bauindustrie. Kein Wunder, nehmen angesichts von Klimakrise und Ressourcenknappheit die Forderungen nach einem Umdenken beim Bauen zu. Nicht ohne Erfolg: Kreislaufwirtschaftliche Prozesse beginnen sich zu etablieren, und das Bewusstsein für den schonenden Umgang mit Ressourcen und Boden wächst – zumindest hierzulande.
Vor allem bei jüngeren Architekt°innen ist ein Unbehagen gegenüber dem bisher üblichen «höher, grösser, mehr» zu spüren. Sie bauen eher um als neu. Doch wenn statt der Abrissbirne der Malerpinsel ausgepackt wird, braucht es dann überhaupt noch Architekt°innen? Zwei Umbauten – einer in der Vaduzer Agglomeration, einer in Amden hoch über dem Walensee – sollen dabei helfen, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
Blaues Gewölbe im Block
Vaduz an einem regnerischen Frühlingstag, die Wolken hängen tief zwischen den Bergen des Rätikons: Ort der Besichtigung ist ein siebenstöckiger Bau im Stadtteil Schwefel. Die Agglomeration ist dicht hier, die Ortsgrenzen sind räumlich nicht spürbar. Aufwendig bepflanzte Aussenräume und Details wie die schmiedeeisernen Ornamente an der Eingangstür zeugen beim Wohnblock von 1974 vom Gestaltungswillen des Erbauers, ebenso die Grundrisse der Wohnungen, wie eine renovierte 5-Zimmer-Wohnung im sechsten Stock zeigt.
Die langjährige Mieterin gab die Wohnung altershalber auf, die Besitzerin der Liegenschaft, eine Bank, beschloss, die instandsetzungsbedürftige Wohnung in den Rohbauzustand zu versetzen und als Stockwerkeigentum auf den Markt zu bringen – ein Glücksfall für den heutigen Besitzer. Aufgewachsen in der Unité d’habitation in Marseille (1947) von Le Corbusier, erkannte er das räumliche Potenzial der Wohnung und beauftragte das junge Architekturbüro Schneider Türtscher aus Zürich mit dem Innenausbau.
Deren Eingriffe konzentrierten sich vor allem auf die Oberflächen. Fast überall bedeutete das: Farbe! Und was für welche: Zum Zug kamen Anstriche eines Schweizer Herstellers, der auf natürliche Pigmente setzt. Den Auftakt macht das komplett in Schwarz gehaltene Entrée. Wie aus einer Höhle hinaus spät man von dort ins Esszimmer, das als Verteiler zur Küche, zum Gästezimmer sowie zum Schlaf- und Wohnzimmer dient. Letzteres öffnet sich über die ganze Breite zum Balkon, die Wand im Farbton Ombre brûlé fasst den Raum.
Doch die Architekt°innen strichen die Wohnung nicht einfach grossflächig an, sondern verliehen ihr durch die Farbigkeit eine konstruktive Geometrie. «Wir haben die Farbe nicht bis zum Rand gezogen, sodass die verbliebenen weissen vertikalen Streifen wie Pfeiler wirken. Das verleiht dem Raum eine zusätzliche Tiefe», erklärt Architektin Michaela Türtscher. Überhaupt, die Übergänge: Mal ist die Farbe um die Kante gezogen, mal gibt es eine klare Trennung, immer ist der Umgang mit Farbe situativ.
Gut erkennbar ist das auch am Fussboden, der roh belassen, aber mit Steinöl, das an ausgewählten Stellen mit Pigmenten dunkel eingefärbt ist, behandelt wurde. Die so entstandenen Diagonalen wirken zunächst wie ein Schattenwurf. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass das Muster permanent ist. Und dann ist da noch das Bijou – ein Raum, den so wohl niemand in einem 1970er-Jahre-Wohnblock vermuten würde: Das Arbeitszimmer leuchtet in einem tiefen Blau, das so unwirklich ist, dass je nach Lichteinfall gar nicht klar ist, wo genau die Wand beginnt. Die Farbe, ein leuchtendes, von den Werken Yves Kleins inspiriertes Ultramarin, sorgt hier buchstäblich dafür, dass sich die Grenzen des Raums auflösen. Ein besseres Beispiel für die transzendente Wirkung von Farbe lässt sich kaum finden.
Schwarze Stube im Strickbau
Ähnlich, aber doch ganz anders zeigt sich das zweite Beispiel, ein über 250 Jahre alter Strickbau in Amden. Auch hier führte ein Besitzerwechsel zum Umbau. Die Architekt°innen des Büros Ruumfabrigg (Näfels / Zürich) kamen zum Projekt, als die Baubewilligung schon auf dem Tisch lag. Die neuen Besitzer wünschten sich statt einer umfassenden Modernisierung, den Charakter des Bestehenden zu stärken und das Haus, wo nötig, technisch auf den neusten Stand zu bringen.
Mit dieser Haltung stiessen sie bei den Architekt°innen auf offene Ohren: «Als wir dazustiessen, befand sich der Bau eigentlich wieder im Rohbauzustand. Der Täfer war weitgehend entfernt, die historischen Oberflächen der jahrhundertealten Holzbalken waren sichtbar. Uns war klar, dass wir diesen rohen Charakter bewahren wollten», sagt Architekt Pascal Marx.
Einer der wichtigsten Eingriffe bestand dann aber in einem für diesen Bautyp fremden Element: Eine Wendeltreppe im Zentrum des Hauses erschliesst neu die Etagen. Die kreisförmig um sie angeordneten Zimmer sind fast alle miteinander verbunden, sodass trotz der niedrigen Decken und der kleinen Fensteröffnungen der Eindruck von räumlicher Grosszügigkeit entsteht – ein mutiger Kunstgriff.
Auch bei diesem Umbau spielte Farbe eine zentrale Rolle. So ist das neue Treppenhaus dunkelblau gestrichen – wie die Samtauskleidung einer Schmuckschatulle. In den Haupträumen blieben die historischen Blockwände sichtbar, erhielten aber einen dunklen Anstrich – eine Reminiszenz an die «schwarze Stube», ein Zimmertyp, der etwa in mittelalterlichen Bauten im Kanton Schwyz verbreitet war.
Mehr davon
Schwarz ist aber nicht gleich schwarz: Die Architekt°innen experimentierten gemeinsam mit dem Malerbetrieb mit verschiedenen Schattierungen, je nach Stockwerk erhielt das Schwarz eine Rot-, Grün- oder Blautönung. Die dunklen Wände lassen die Grenzen des Raums verschwimmen und lenken den Fokus zu den Fenstern und dem eigentlichen Höhepunkt: der phänomenalen Aussicht auf die Bergkette hoch über dem Walensee.
Doch zurück zur Eingangsfrage: Wenn weniger neu gebaut, sondern «nur» renoviert wird – braucht es dann überhaupt noch Architekt*innen? Solange es Architekturschaffende gibt, die ihr Instrumentarium so virtuos beherrschen wie die Protagonist°innen hinter diesen beiden Umbauten, kann auf diese Frage nur mit einem beherzten «Unbedingt!» geantwortet werden. Angesichts der atmosphärisch starken, für die Bewohner°innen funktionierenden Bauten lässt sich sogar wünschen: Statt weniger sollten es noch viel mehr sein!
Bildnachweis
Beni Blaser