Leichtfüssige Baukunst am Steilhang
Die Anlage der Kantonsschule Chur auf Halde und Plessur erhält durch ihr Verbindungsstück von Esch.Sintzel mit Treppe und Schrägaufzug ein Passstück der besonderen Art. Und einen Mehrwert, der sich im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen kann.
Beitrag vom 22. November 2013
Text: Marina Hämmerle
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Ursprünglich verfolgte das kantonale Hochbauamt die Zusammenlegung der Schulen an einem Standort. Das von Andres Liesch entworfene Haus Cleric auf der Plessur, zuerst als Lehrerseminar angelegt, in Folge den Unterstufen der Kantonsschule dienlich, warin die Jahre gekommen. Ebenso nagte der Zahn der Zeit am Schulgebäude auf der Halde, von Max Kasper geplant und 1972 eröffnet. Dort häuften sich die Bauschäden, Handlungsbedarf war gegeben.
Widerstand gegen Abbruch
Zwei Wettbewerbe wurden unter dem damaligen Kantonsbaumeister um die Jahrhundertwende lanciert: ein Neubau für die Kantonsschule auf der Plessur und nebenan einer für eine Dreifach-Sporthalle mit Sportanlage. Aus beiden Unterfangen sollte nichts werden. Die zeitgemässen, wettkampftauglichen Sportstätten fanden keinen Widerhall in der Budgetplanung, andere Prioritäten mussten gesetzt werden. Der Neubau Kantonsschule, dem zwangsläufig auch der Abriss der 1960/70er-Ikonen vorausgegangen wäre, rief Bürgertum, Architekten und Heimatschutz auf den Plan. Das gekürte Projekt von Daniele Marques verschwand nach der mehr als eindeutig negativen Volksabstimmung in der Schublade. Heute würde einer so gewichtigen Entscheidung wahrscheinlich eine Bürgerbeteiligung vorangestellt und die Interessenvertretungen wären im Vorfeld eingebunden – eine Errungenschaft des letzten Jahrzehnts.
Die damals schon erwogene Alternative der Sanierung beider Bauten wurde postwendend in Angriff genommen, wenngleich bei ungefähr identischen Baukosten diese weit höhere Betriebskosten nach sich ziehen würden. Baukulturelles Erbe sichern fordert auch hier seinen Tribut, damit verbundene Werte sind aber nicht in Franken aufzuwiegen. Jüngling und Hagmann schälten aus dem Kasper Bau das Beste heraus, auch Pablo Horvath behandelte das Haus Cleric auf kluge, zurückhaltende Art. In Markus Dünner, seit 2002 Kantonsbaumeister, und seinem Team fanden sie die entsprechenden Bauherrenvertreter. Den passenden Entwurf zum notwendig gewordenen Verbindungsbauwerk ermittelte ein geladener Wettbewerb mit Präqualifikation.
Die Aufteilung der schulischen Disziplinen auf mehrere Häuser unterschiedlicher Höhenlagen macht den Schulbetrieb zu einem logistischen Sudoku und bringt in Spitzenzeiten der extra lang angesetzten Pausen ein paar hundert Schülerinnen und Lehrer in Bewegung. Steil und schmal ist das geplante Baufenster über die Strasse nach Arosa hinauf zur Kirche St.Luzi. Was die Architekten Philipp Esch und Stephan Sintzel, die als Sieger dieses Wettbewerbs hervorgingen, in dieses Hangstück hineinimaginieren, gleicht der gekonnten Schrittfolge eines eng umschlungenen Tangopaares.
Inspiration holten sie sich bei historischen Referenzen, insbesondere beim Wallfahrtsweg zum Santuario della Madonna di San Luca, ausserhalb Bolognas auf einem Hügel gelegen, einem Landmark von atemberaubender Schönheit. Besagter Wallfahrtsweg verkörpert eine hybride Typologie zwischen Haus und Weg und kommt dem nahe, was ihnen an diesem Ort und für diese Funktion vorschwebte.
Prekär anmutendes Faltwerk
Den Schülern der Kanti wird einiges an Weg abverlangt, um vom Mathematikunterricht zur Klavierstunde oder zum Physikseminar zu gelangen – zwischen Halde und Plessur liegen rund 500 Meter Weglänge und einige Dutzend Höhenmeter. Umso mehr trachteten die Planer danach, diesen Weg möglichst geschuützt und abwechslungsreich zu gestalten.
Auch der Bau von Kasper und vor allem das etwas höher gelegene Konvikt von Otto Glaus dienten als Analogien. Diese Bauten sind exemplarisch für Bauen im geneigten Gelände, sie scheinen geradezu an den Hang gegossen und verbünden sich mit ihm. Eine ähnliche Liaison strebten Esch.Sintzel mit dem Bauwerk für den Verbindungsweg an. Im Berg, am Berg und auf dem Berg wähnt sich der aufmerksame Spaziergänger, die flotte Passantin. Das Ein- und Auftauchen ist gekonnte Inszenierung und vor allem auch bewusste Zusammenführung der beiden Nutzungsarten: per Treppe oder wem dies verwehrt ist per Schrägaufzug. Nahezu senkrechte Bruchsteinmauern bilden die äussere Schicht des teils felsigen Geländes, horizontal durchschnitten von der Strasse nach Arosa, Friedhof und bistümlicher Rebgarten wechseln in der Vertikalen.
Dazwischen drückt sich nun das Betonbauwerk in den Steilhang, taucht ein in ein riesiges Portal, unterwandert sicher die kaschierte Brücke unter der Landstrasse, dreht sich im erhabenen Raum-Zuschnitt halb um die eigene Achse, um nach nochmaligem Schwenk in die mit Zwischenpodest versehene Zielgerade einzubiegen.
175 Stufen leichtfüssigen Gehens, das Auge schweift gerahmt über die Stadt, der Wind bläst den Kopf frei, der Körper erhöht den Puls und energetisiert den Geist. Das, was aus dem Fels herausragt, der Betonskulptur aufsitzt und Raum formt, ist ein papierenes, ja prekär anmutendes Faltwerk aus wetterfestem Stahl. Die rostige Metalloberfläche fügt sich bestens in den Hang und spielt die Dimension des Bauwerkes in der Wahrnehmung herunter. Dies tun auch die eingestanzten Öffnungen, welche an überdimensionale Wabenträger erinnern und Ein- und Ausblicke zulassen. Die Aussteifungen und Knicke in den 12 mm starken Stahlblechen resultieren aus statischer Notwendigkeit und wasserableitender Funktion. Doppelbödig ist der Deckel und mit Spanten zu einem Kastenträger ausgebildet – so verbirgt sich geschickt die statische Höhe. Wie überhaupt das Überlappen der dünnwandigen Schachtel, deren Anschlussdetails an das Betonwerk, das Herausschälen aus dem Felsen und das Befestigen des Betonraumes von der geglückten Kooperation mit den beteiligten Ingenieuren, Lüchinger + Meyer, und Zoanni, Büro für Baumanagement, zeugen.
Innen leuchtet der filigrane, rostige Stahlkörper in hellem, schimmerndem Weiss, reflektiert das einfallende Licht und die Farben und birgt einen wichtigen psychologischen Aspekt, den der Sicherheit. Das Gehäuse wirkt einladend und befügelt den Schritt. Dem tut es auch das Geländer gleich, das leicht und beinahe textil in der Anmutung aus den Passepartouts blitzt. Das industrielle Produkt, ein handeübliches, perforiertes Blech wird durch die statisch wirksame, wellenförmige Kantung und den zimtfarbenen Anstrich veredelt. Im hölzernen Handlauf ist auf der Unterseite ein LED-Lichtband integriert; die dezente Illuminierung soll auch nachts die suchtfreie Zone garantieren. Einziger Wermutstropfen in der durchdachten Tektonik und Semantik ist die als Säule anmutende Wasserableitung im Eingangsbereich.
Das Werk verdient einen Namen
Die Materialisierung ergibt in Summe einen stimmigen Kanon, wenngleich der Beton nicht, wie von den Architekten vorgesehen, gestockt ausgeführt wurde. Auf Nachfrage antwortet der Kantonsbaumeister: «Neben den technischen Bedenken schienen uns auch die Mehrkosten nicht vertretbar, obwohl die veranschlagten Kosten unterschritten wurden. Wir sind dem Steuerzahler verpflichtet und wollten die Reserven nicht antasten.» Ob mit oder ohne gestockten Beton, die Verbindung Plessur-Halde von Esch.Sintzel verschränkt das wiederbelebte Ensemble, zu dem auch das stringente Naturwissenschaftshaus von Bearth Deplazes gehört, auf das Vortrefflichste, ist ein Beispiel angewandter Baukunst trotz hoher Anforderungen und Zwänge und verdient einen Namen. Ich plädiere für den einer grossen Reformerin im Bildungswesen der Schweiz.
Bildnachweis
Hanspeter Schiess