Architektur Forum Ostschweiz

Im Grünen geborgen

Mit einem pavillon­artigen Wohn­haus in Wein­felden wird das traditionelle Stöckli neu interpretiert. In einem üppigen Garten ergänzt es den Bestand aus den 1970er-Jahren und besticht mit einer zurück­haltenden Ästhetik. Vor allem aber leistet der Neubau eines: Nach­ver­dichtung par excel­lence.

Beitrag vom 27. Juni 2024

Text: Nele Rickmann

  • Bild zum Beitrag Sergio Marazzi und Andreas Reinhardt haben im prächtigen Garten eines Wohnhauses aus den 1970er-Jahren einen Neubau verwirklicht.
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  • Bild zum Beitrag Der starke Bezug zum Aussenraum prägt den Bau der Winterthurer Architekten.
  • Bild zum Beitrag Helle Holzoberflächen bestimmen die Innenräume.
  • Bild zum Beitrag Küche, Wohnzimmer, Ess- und Eingangsbereich bilden einen fliessenden Raum. Gegliedert wird er von eingestellten Raumboxen.
  • Bild zum Beitrag Im Tagesverlauf verändern sich Lichtstimmung und Atmosphäre in den Räumen.
  • Bild zum Beitrag Die Innenausstattung ist durchdacht und bis ins letzte Detail präzise gearbeitet. Eine Qualität, die viele Projekte von Marazzi und Reinhardt auszeichnet. Beide haben eine handwerkliche Vorbildung.

Es liegt auf der Hand: Die nach innen gerichtete Ver­dichtung – das Weiter­bauen an oder auf be­ste­henden Ge­bäuden oder das Er­gänzen von Neu­bauten auf bereits be­bauten Grund­stücken – ist nicht nur eine An­gelegen­heit der öffent­lichen Hand, von Städten und Gemeinden. Auch private Grund­stücks­besitzer tragen eine er­hebliche Mit­verant­wortung, wenn es darum geht, die Aus­weitung des Siedlungs­raums in land­schaft­liche Frei­räume ein­zu­dämmen.

Das «Dichte-Problem» ist nicht nur in Gross­städten und zentralen Ballungs­zentren akut, auch mittel­grosse und kleine Orte sind bedacht, die Land­schaft zu schonen und das Bauen auf den Siedlungs­raum zu konzen­trieren. Seit 2016 wirkt das Bundes­amt für Raum­entwicklung vermehrt der Boden­knappheit ent­gegen; das Prinzip der Nach­verdichtung wird seither schweiz­weit gross­geschrieben.

Garten auf Augenhöhe

In Weinfelden zeigt das Architektur­büro Marazzi Reinhardt beispiel­haft, wie das traditio­nelle Stöckli mit Blick auf die private Nach­verdichtung als Inspiration dienen kann. Das Stöckli ist ein ur­sprünglich auf Bauern­höfen errichtetes Neben­gebäude, in das die Alt­bauern zogen, sobald die Nach­kommen den Hof über­nahmen. Die Winter­thurer Archi­tekten greifen das Stöckli als Typo­logie auf und inter­pretieren es als Pavillon neu. Der zurück­haltende Neu­bau steht in einem Ein­familien­haus­quartier und ver­dichtet ein gross­zügiges Grund­stück samt prächtigem Garten und Bestands­architektur aus den 1970er-Jahren. Grosser Plus­punkt: Die Ergänzung gliedert sich so geschickt in den Ort ein, dass eine spätere Fremd­vermietung möglich wäre und auch bereits an­gedacht ist.

Der Neubau, platziert auf dem leicht anstei­genden Terrain zwischen Strasse und 70er-Jahre-Bestands­bau, ist in einen üppigen Garten einge­bettet. Subtil fügt sich der Pavillon in den Kontext ein, und auch im Inneren ergeben sich aus dieser Ein­bindung besondere Quali­täten. Zur südlichen Stirn­seite öffnet sich das Haus eben­erdig mit einer Terrasse, zur anderen Seite liegt das Boden­niveau auf Brüstungs­höhe. Der Blick in den Garten er­streckt sich auf Augen­höhe: eine ungewohnte, spannende Perspek­tive. Der Lauf der Jahres­zeiten wird hier auch durch die Archi­tektur erleb­bar.

Ein mäandrierender, offener Raum erstreckt sich von Nord nach Süd über die gesamte Länge des Hauses. Er ist Küche, Wohn-, Ess- und Eingangs­bereich zugleich. Gegliedert wird er durch vier ein­gestellte Raum­boxen, von denen drei als Schlaf- oder Arbeits­zimmer genutzt werden können. Die vierte bein­haltet Bad, WC sowie Technik­räume und ist auch von aussen her zu­gänglich. Diese Zimmer bilden Rückzugs­bereiche und er­mög­lichen aus­serdem einen privaten Bezug zum Aussen­raum. Ein an die Topo­grafie ange­passter Beton­sockel sorgt dafür, dass die gesamte Nutz­fläche eben­erdig und somit alters­gerecht ge­staltet ist. Bedürf­nisse nach dem Wohnen im Alter spielten im Ent­wurf eine ent­scheidende Rolle. Sie wurden jedoch be­wusst inte­griert und nicht zentral in den Vorder­grund gestellt, erklärt Architekt Sergio Marazzi bei der Begeh­ung.

Passgenaue Fügung

Die Einbindung in den Kontext wird neben dem Blick in den Garten und zum Bestand auch über die Kon­struk­tion be­tont. Der Holz­bau folgt einer klaren Stab­konstruk­tion; die Fassaden­öffnungen ergeben sich aus den Stütz­abständen der tragen­den Struktur. Dabei ziehen sich die hohen Decken­träger unter den Vor­dächern fort, welche vor Witterung und Sonne schützen. Innen- und Aussen­raum scheinen hier einmal mehr in­einan­der über­zugehen.

Das helle Holz im Inneren samt Einbau­mobiliar steht im Kontrast zur dunkel lasierten Holz­fassade, die sich an der Farb­gebung des 70er-Jahre-Bestands­baus orientiert. An der detail­lierten Planung und feinen Aus­füh­rung der Innen­ausstat­tung zeigt sich das hand­werkliche Geschick, das sich Sergio Marazzi und Andreas Reinhardt in ihrer dem Architektur­studium voran­gegang­enen Aus­bildung zum Zimmer­mann beziehungs­weise Schreiner ange­eignet haben. Eine pass­genaue Fügung der Holz­elemente unter­streicht die qualitativ hoch­wertige Archi­tektur.

Je nach Tageszeit erfüllt ein anderes Licht die Atmos­phäre im Inneren. Ober­lichter ermöglichen eine natür­liche Be­lichtung und lassen die Räume über den Tag hinweg unter­schiedlich wirken. Mit allen Sinnen kann man den Ort samt üppigem Garten wahr­nehmen. Das Haus in Wein­felden ist nicht nur ein Exempel privater Nach­verdichtung, sondern zeigt darüber hinaus, wie Architektur die Poesie eines Ortes erleb­bar machen kann.

Wegducken ist keine Option: Porträt von Sergio Marazzi und Andreas Reinhardt bei swiss architects

Bildnachweis

Ladina Bischof

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