Architektur Forum Ostschweiz

Experimentieren im Baudenkmal

Das Werk­haus Frei­sitz in Tägerschen ist ein Ort zum Lernen, Arbeiten und für Ver­an­stal­tungen. Gemein­sam ent­wickeln hier Exper­tinnen und Ex­perten aus ver­schiedenen Diszi­plinen basierend auf tradi­tionel­lem Hand­werk und voll Wert­schätzung für die Ge­schichte Strate­gien für die Zu­kunft des Bau­ens.

Beitrag vom 27. März 2025

Text: Corinne Riedener

  • Bild zum Beitrag Der Freisitz ist fast 600 Jahre alt. Zurzeit wird in dem Baudenkmal ein überregionales Zentrum für hochwertiges und experimentelles Handwerk aufgebaut.
  • Bild zum Beitrag Im Rahmen eines internationalen Bildungsprogramms kooperieren der Verein Werkhaus Freisitz und die Hochschule HTWG Konstanz. Gemeinsames Ziel: Handwerk, Architektur, Ingenieurwesen zusammenzubringen.
  • Bild zum Beitrag Das Werkhaus soll auch ein Ort zum Experimentieren sein.
  • Bild zum Beitrag In Zukunft sollen, so wünscht man es sich beim Verein, alle angehenden Handwerkerinnen und Handwerker im Kanton Thurgau mindestens einmal mit dem Werkhaus in Kontakt kommen.
  • Bild zum Beitrag Im Werkhaus wird unter anderem mit Sgraffito, Lehm und Stuck experimentiert.
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  • Bild zum Beitrag Im Werkhaus finden regelmässig Veranstaltungen statt. Bald soll man hier auch temporär wohnen können.

Dieses Haus ist eine Mogel­packung im besten Sinn: Auf den ersten Blick käme man nie auf die Idee, dass der hell ver­putzte Bau mit der teil­geschin­delten West­seite an der Münch­wiler­strasse in Täger­schen im Kanton Thur­gau fast 600 Jahre alt ist – oder zu­mindest der Gross­teil davon. Betritt man das statt­liche Ge­bäude, wird aber schnell klar: Hier lebt die Ver­gangen­heit in jeder Ritze, hinter jeder Farb­schicht, unter jedem Balken. Und doch ist es ein Haus für die Zu­kunft.

Erstellt wurde der Freisitz Täger­schen um 1438 als drei­geschos­siger Speicher­bau. Das hat eine dendro­chro­­no­lo­gische Datie­rung er­geben, so nennt man die Alters­bestim­mung an­hand der Baum­ringe auf Holz­bau­teilen. Im 17. Jahr­hundert wurde er zu einem Wohn­haus im Barock­stil um­gebaut und mit einem West­anbau er­weitert. Ver­voll­ständigt wurde das En­semble mit einer Ka­pelle und einer Mühle. Bis 1871 diente es als Statt­halterei und Gerichts­gebäude des Thur­gauer Be­zirks Tobel. Im 19. Jahr­hundert wurde daraus eine Stick­erei, später baute man eine Senn­erei ein – beide hat­ten mäs­sigen Er­folg.

2013 hat die Denk­mal Stiftung Thur­gau die his­torisch be­deutende Liegen­schaft mit Hilfe von Kanton und Ge­meinde ge­kauft. Sie sollte der Speku­lation ent­zogen und wieder nutz­bar ge­macht werden. In den fol­genden Jahren wurden Aussen­hülle, Dach und sta­tische Ele­mente auf­wendig restau­riert. Seit 2023 ist der Verein Werk­haus Frei­sitz für die Nutz­ung und den Be­trieb des Erd­geschos­ses und des ersten Ober­ge­schos­ses ver­ant­wort­lich. Die Vision: Das Werk­haus soll zum über­regiona­len Zent­rum für hoch­wertiges und experi­ment­elles Hand­werk werden.

Alle sollen näher zusammenrücken

Am ersten März­samstag bläst der Wind noch eisig ums Haus. Drinnen sorgen mobile Heiz­körper für etwas Wärme, in der alten Küche knistert ein Feuer. In der grossen Wohn­stube neben­an findet gleich eine Buch­präsenta­tion statt, die zum Ort passt: Vor­gestellt wird das Buch «Farb­kultur und Hand­werk in Schwei­zer Re­gionen». Die Restau­ratorin Doris Warger und der pensio­nierte Maler­meister Martin Vock vom Verein Werk­haus Frei­sitz sitzen mit dem Archi­tekten Ueli Wepfer von der Denk­mal Stif­tung Thur­gau am weiss ge­deckten Tisch und be­sprechen die letzten Details. Sie sind ein ein­ge­spieltes Team. Im Werk­haus finden regel­mässig An­lässe statt; vom Fach­dialog am Mittags­tisch über Weiter­bildungs­tage für Hand­werkerin­nen und Hand­werker bis zum mehr­tägigen Work­shop für Lern­ende. Sogar wohnen kann man hier bald temporär.

Das Bau­hand­werk hat Zukunft. Gipserin­nen, Zimmer­leute, Maler – die gute alte Hand­arbeit bleibt auch im Zeit­alter der künst­lichen Intelli­genz ge­fragt. Be­sonders in der Ost­schweiz sei die Branche stark und kom­petent, er­klären Wepfer, Vock und Warger. Und anders als in anderen Berufs­feldern gehe der Trend in der Bau­branche auch nicht weiter Rich­tung Aka­demi­sierung. «Im Gegen­teil», sagt Archi­tekt Wepfer. «Die Akade­mien kommen eher wieder näher zum Hand­werk. An den Fach­hoch­schulen der Region legt man sehr gros­sen Wert auf die hand­werk­liche Praxis. In St. Gallen etwa nutzen die Lern­enden in der Architektur­Werkstatt im ersten Jahr kaum je einen Computer. Statt­dessen lernen sie hand­werk­liche Tech­niken und Materi­alien von Grund auf kennen.»

Auch Inter­disziplin­arität ist in den Bau­berufen ein wachsendes Thema. Dem will das Werk­haus mit der Walz 4.0 Rechn­ung tragen, einem grenz­über­schreitenden Bildungs­programm in Zusammen­arbeit mit der Hoch­schule HTWG Konstanz. Ziel ist es, Hand­werk, Archi­tektur und Ingenieur­wesen näher zusammen­zubringen. Die Mischung aus traditio­nellem Hand­werk, digitalen Tech­nologien und experimen­tellen Praktiken soll die jungen Fach­leute wappnen für Klima­krise, Energie­wende, soziale Verant­wortung und andere Heraus­forderungen, die besonders auch den Bau­sektor betreffen.

Angefangen hat die Werkhaus-Walz 2024 mit einem Pilot­projekt quasi am lebenden Objekt: Gemeinsam mit einem Ingenieur haben Hand­werkerinnen, Hand­werker und Studier­ende der HTWG eine Riegel­wand im Frei­sitz gesichert. Mittler­weile wird im Rahmen der Walz 4.0 auch ein Atelier­stipendium ange­boten. Wichtig ist, dass sich die Akademi­kerinnen dabei mit den Hand­werkern zusam­mentun. Ob sie dann zum Beispiel an der Her­stellung eines lokalen Lehm­putzes tüfteln oder ihr Projekt eher theo­retischer Natur ist, bleibt ihnen über­lassen. Das Werk­haus will dies­bezüglich keine Grenzen setzen und ist explizit offen für Feld­forschung und Inno­vationen.

Den kulturellen Mehrwert pflegen

Man will aber nicht erst bei den höheren Stufen an­setzen, sondern bereits in der hand­werklichen Grund­bildung. «Die Idee wäre, dass alle Lern­enden im Thur­gau während ihrer Aus­bildung mindes­tens ein­mal mit dem Werk­haus in Kontakt kommen», sagt Maler­meister Martin Vock. «Hier können sie hoch­wertiges und experi­mentelles Hand­werk live erleben.» – «Und den kulturellen Mehr­wert der Hand­werks­kunst», ergänzt Restaura­torin Warger. Dieser werde beim Bauen nämlich oft ver­gessen vor lauter Zeit- und Spar­druck.

Was diesen kultu­rellen Mehr­wert auch aus­macht, sieht man überall im Werk­haus. Unten im Nass­atelier, wo mit Sgraffito, Lehm oder Stuck experi­mentiert wird, nebenan in der ehe­maligen Kapelle, wo ge­schreinert und restau­riert wird, oder ganz oben im Dach­stock, der unter anderem zur Unter­suchung alter Malereien, Schich­ten­folgen oder der Statik der Balken dient. Hier soll der­einst eine Woh­nung für Ferien im Bau­denk­mal ent­stehen, samt Fach­biblio­thek.

Wie genau die oberen Geschosse dann aus­sehen werden, ist offen. «Die Geschichte des Hauses soll ables­bar blieben», sagt Ueli Wepfer. Aber es gehe nicht darum, alles wieder in den Ursprungs­zustand zu ver­setzen. «Gerade bei diesem Gebäude, das so viele Über­raschungen birgt, kann man ohne­hin nicht alles bis ins letzte Detail planen. Das Konzept wird laufend disku­tiert und justiert.» Das passt zu den Hand­werker­innen und Hand­werkern im Werk­haus: Auch sie bauen auf dem Histo­rischen auf und leiten daraus Lösungen ab für die Zukunft.

Bildnachweis

Ladina Bischof

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