Eine Brücke, die das Auge schärft
Die Taminabrücke reiht sich ein in den Stammbaum des Schweizer Brückenbaus. Trotz ihrer spektakulären Konstruktionsweise inszeniert sie nicht sich selber, sondern die Landschaft. Die Spannbeton-Bogenbrücke über die Tamina wird nächstes Jahr eröffnet.
Beitrag vom 18. Juni 2016
Text: Rahel Hartmann Schweizer
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Unser Land sei durchlöchert wie ein Schweizer Käse, besagt ein Bonmot, das den Respekt vor der ingenieurtechnischen Leistung verhehlt. Erst vor zwei Wochen wurde mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels ein Jahrhundert-Durchstich gefeiert. Die Schweiz ist aber nicht minder ein Brückenland. Ebenso wie Erhebungen untergraben, werden Täler und Schluchten überbrückt. Das Schweizer Schienennetz ist mit 8200 Brücken bestückt und die Autobahnen mit deren 3000. Die Topographie der Schweiz – ansonsten Aushängeschild für die Tourismuswerbung – wird auf der Ebene des Verkehrs nivelliert. Das wird einem besonders bewusst, wenn man im Ausland unterwegs ist und Serpentine um Serpentine erklimmt, mittels derer Hügelzüge und Talsohlen umfahren werden.
Während Tunnels den Eingriff in die Landschaft naturgemäss kaschieren, treten Brücken markant in Erscheinung – manche von ihnen sind dem Landschaftsschützer ein Dorn im Auge. Die in den 1970er Jahren gebaute Sihlhochstrasse vor den Toren Zürichs ist ein Schandfleck par excellence. Und Rekorde sind nicht per se bemerkenswert. So ist die mit 3155 Metern längste Brücke der Schweiz, das Viaduc d’Yverdon, die vier Gewässer, mehrere Strassen und die Eisenbahnlinie Lausanne–Yverdon quert, alles andere als eine Augenweide.
Inszenieren oder sich einfügen
Beispiele wie dieses führen dazu, dass die Bevölkerung Brückenbauten ambivalent gegenübersteht. Meist werden sie als reine Zweckbauten empfunden. In vielen Fällen sind sie das jedoch keineswegs. Ingenieure wie Robert Maillart in der Vergangenheit und Conzett, Bronzini & Gartmann, Christian Menn, Fürst Laffranchi in der Gegenwart forschten und forschen an Lösungen, die konstruktive mit ästhetischer Qualität verbinden, Tragfähigkeit mit Formschönheit, so dass Brücken nicht als Riegel wirken, als Barrieren die Topographie negieren, sondern ihren spektakulären Aspekt inszenieren. Dabei gibt es verschiedene Interpretationen des Inszenierens. Es kann bedeuten, «eine Landmarke zu erstellen», also das Bauwerk in den Vordergrund zu spielen, oder aber konträr meinen, die spektakuläre Landschaft zu unterstreichen, indem das Bauwerk sich in sie einfügt.
Mehr als nur Talhälften verbinden
Die 24 Projekte, die bei dem vom Kanton St. Gallen 2007 ausgeschriebenen Wettbewerb für den Bau der Taminabrücke eingereicht wurden, waren ein Abbild dieser beiden Entwurfshaltungen. Wohl bewerkstelligten alle Projektverfasser die Verbindung der Dörfer Valens und Pfäfers, die durch eine 200 Meter tiefe Schlucht voneinander getrennt sind, ohne Zwischenabstützung, das heisst, ohne die Talsohle zu berühren. Doch die Ausbildungen als Sprengwerke, Hänge- oder Schrägseilbrücken, Rahmen- oder Fachwerkkonstruktionen waren in erster Linie Zeugnisse brillanter Ingenieurskunst. Demgegenüber gelang dem deutschen Ingenieurbüro Leonhardt, Andrä & Partner mit ihrem Stahlbetonbogen die Inszenierung mittels Einpassung. Mit ihrem Stahlbetonbogen gewann das Büro denn auch die Ausmarchung.
Die bisherige Gemeindestrasse von Bad Ragaz nach Valens führte durch ein Rutschgebiet, was sie gefährlich und oft sanierungsbedürftig machte. An den Bau der Brücke knüpft sich daher nicht nur die Absicht einer kürzeren Verbindung zwischen Pfäfers und Valens, sondern auch die Hoffnung auf eine sichere Erschliessung der Klinik Valens, deren wirtschaftliche Prosperität dem Kanton am Herzen liegt. Und schliesslich wünscht man sich auch die Entlastung des Ortskerns von Bad Ragaz.
Schonender Freivorbau
Am 28. März 2013 erfolgte der Spatenstich. Zunächst wurden die Fundamente, die sogenannten Kämpfer, erstellt. 2014 wurde der Bogen mit seinen 265 Metern Spannweite in Angriff genommen und im Freivorbau mittels Hilfspylonen und Rückhaltekabeln von beiden Talflanken her in Richtung Scheitelpunkt errichtet. Auf diese Weise bedurfte es keines Lehrgerüsts, so dass die Schlucht, die ein Schongebiet ist, kaum angetastet wurde.
Ausserdem wurden ökologische Ersatzmassnahmen ergriffen. Sie beinhalteten die Bachrevitalisierung im Gebiet Valur, die Schaffung von Querungsmöglichkeiten für Wildtiere und von Strukturen für Fledermäuse an der Brücke sowie des Naturwaldreservats Badtobel, die Planung von neuen Obstgärten und die Instandstellung beziehungsweise der Ersatz von Trockensteinmauern.
Auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Spatenstich wurde am 28. März 2015 der Bogen der Brücke geschlossen. Er zeichnet sich durch eine Eleganz aus, die einerseits von den radial angeschlossenen Bogenstützen ausgeht, die den Schwung des Bogens betonen. Andererseits dynamisiert die Asymmetrie – auf der einen Seite sind es zwei Bogenstützen, auf der anderen deren drei – die Spannung der Überbrückung. Sie vermittelt den Eindruck eines beweglichen Überspringens der Schlucht.
Maillard-Kapitel fortsetzen
Wenn die Spannbeton-Bogenbrücke über die Tamina nächstes Jahr eröffnet wird, schreibt sie ausserdem ein Kapitel fort, das Robert Maillart mit der 1930 errichteten Salginatobelbrücke zwischen Schiers und Schuders gewissermassen aufgeschlagen hat. Ebenso wie diese sensibilisiert sie nicht nur für den Wert von Infrastrukturbauten, sondern auch für die Landschaft, deren Schönheit manches Auge erst durch sie erkennt.
Bildnachweis
Hanspeter Schiess