Ein grüner Mocken erinnert an die Natur
Hinter der St.Galler Empa hat der Bildhauer Jürg Altherr eine bewachsene Skulptur geschaffen. Sie ist auch ein vorbildliches Beispiel für die Gestaltung von Landschaft.
Beitrag vom 20. Oktober 2015
Text: Gerhard Mack
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Wer beim Discounter Lidl in St. Gallen-Bruggen einkaufen geht, schaut auf ein merkwürdiges Gebilde: Neben der Empa liegt ein riesiges Metallgerüst im Grünen, das fast ganz von Hagebuchenhecken überwuchert ist. Im Frühling machen die Blätter es undurchdringlich, im Herbst wird das kahle Geäst mit seinen vielen spitzen Zweigen zum Ausdruck von Abwehr und Kargheit. Der Bildhauer Jürg Altherr hat diese Struktur realisiert, als die Empa nach Entwürfen des Architekten Theo Hotz gebaut und Geld für Kunst am Bau bewilligt wurde. Wer sie sieht, empfindet sie als einen Fremdkörper. Gerade weil sie autistisch ist, gibt sie an diesem Ort ein gelungenes Beispiel für den Umgang mit Natur, wie es sie in der Landschaftsarchitektur nicht allzu oft gibt. Warum?
Kunst als Resteverwerterin
Zunächst einmal spürt man, dass da jemand am Werk war, der in grösseren landschaftlichen Bezügen denkt. Jürg Altherr ist auch ausgebildeter Landschaftsarchitekt. Er hat seinen Heckenkörper ganz präzise für das Stück Stadtrand entworfen, das ihn umgibt. Dieses besteht aus einer diffusen Ansammlung verschiedenster Elemente, wie man sie oft an Einfallstrassen mit ihren ungeplanten Wechseln aus Gewerben und Wohnbauten findet. Am Horizont besetzen Öltanks den Hang. In unmittelbarer Nähe schliessen die Bauten des St. Galler Tagblatts das Gelände ab. Nach Westen liegen Gewerbehallen. Eine ehemalige Brache wird inzwischen vom Discounter besetzt. Gegenüber ist eine Wohnüberbauung. Keines dieser Objekte hat miteinander zu tun. Sie alle entstanden auf einer Wiese, von der noch ein schmaler Streifen Rietgras mit einem Bach übrig geblieben ist, der die Parzelle begrenzt.
Die Skulptur sitzt auf einem Teil dieses grünen Restes, der vom Architekten nicht gebraucht wurde. Kunst ist da Resteverwerterin. Vielleicht hat man gedacht: Lieber eine Skulptur als noch mehr Parkplätze. Aber der Heckenkörper zieht gerade aus dieser Verlegenheit einen Teil seiner Kraft: Er dehnt sich bis an die Ränder dieser unbrauchbaren Fläche und macht sie zu einem Statement: Kunst ist das, was sich der allgemeinen Verwertung entzieht, das ideellen Raum schafft, um über das Selbstverständliche nachzudenken, das unser Zusammenleben bestimmt. Altherr bringt das mit der Fremdheit seines Heckenkörpers zum Ausdruck. Dieser ist ganz nach innen gewandt, implodierte Energie, die das Konturlose des Umlandes abstrahlt und spürbar macht. Natürlich tritt die Skulptur auch in Dialog mit der Umgebung: Die in den Himmel ragenden Türme der Empa erhalten eine horizontale Dimension. Der Heckenkörper beschreibt im Grundriss einen verlängerten Kreisbogen und misst in seiner längsten Ausdehnung siebzig Meter, an der breitesten Stelle ist er fünfzehn Meter tief. Das ergibt eine stattliche Fläche. Die Struktur aus Metallprofilen vermeidet rechte Winkel. Die Begrenzung, die von den oberen Trägern markiert wird, fällt von sieben auf anderthalb Meter ab. Die Schräge, die Bogenform treten der klaren Gestalt des Stadttors entgegen, die der Architekt für seinen Entwurf gewählt hat. Vor allem setzt der Künstler der transparenten Stahl-Glas-Architektur wucherndes Dickicht zur Seite.
Nichts bleibt gleich
Architektur und Skulptur haben traditionell gemeinsam, dass sie nach ihrer Fertigstellung unverändert bleiben. Sie trotzen soweit möglich der Zeit. Die Natur kennt den Wechsel, sie gibt uns mit ihren Jahreszeiten unseren Lebensrhythmus vor und wuchert, wo ihr keine Begrenzung gesetzt wird. Jürg Altherr bringt dieses Zusammenspiel aus fester Struktur und Wildwuchs in seinem Heckenkörper zusammen. So klar das Gerippe aus Metallprofilen ist, so frei entfalten sich die Hagebuchen im Innern.
Die Einbeziehung der Natur gibt der Skulptur eine zeitliche Dimension. Die Hecken wachsen. Als das Werk 1998 aufgestellt wurde, waren sie kaum mehr als ein bodennahes Gebüsch in einem offenen Käfig. Heute haben sie an vielen Stellen die Ränder der Metallstruktur erreicht. Sie verändern den Körper und unseren Blick darauf. Das fast zeichnerische Metallskelett tritt zumindest in der belaubten Jahreszeit fast ganz zurück. Körperhohe Röhren, die der Künstler als eigene Räume hineingehängt hat, bleiben wie geheime Kammern gänzlich unsichtbar.
Umgekehrt erlaubt die Skulptur aber auch, die Natur besser wahrzunehmen. Diese entwickelt ihre Formen nach den genetischen Vorgaben der Pflanzen im Zusammenspiel von Boden und Klima und folgt einer anderen Logik als die Ingenieurskunst. Vor allem aber beanspruchen Pflanzen andere Zeitrhythmen und eine andere Dauer. Nichts bleibt gleich. Wachstumsprozesse verlaufen nicht linear.
Disziplinierte Vegetation
Das bedarf einer spezifischen Wachsamkeit und einer dauernden Pflege. Jeder Hobbygärtner weiss, dass er zu seinem Garten Sorge tragen muss. Diese Notwendigkeit der Zuwendung macht der Heckenkörper Jürg Altherrs unmittelbar deutlich. Mag sein, dass die Hecken robust sind und mit Regenwasser auskommen. Sobald sie die Metallstruktur überwachsen, muss jedoch entschieden werden, ob sie gestutzt werden sollen, damit das Widerspiel aus fester Form und Veränderung sichtbar bleibt. Man kennt das aus französischen Parkanlagen und ihren zugeschnittenen Bäumen.
Sowohl Pflege wie Langfristigkeit stehen quer zu unserer Zeit des schnellen Konsums. Sie kennzeichnen darüber hinaus einen spezifischen Umgang mit der Natur. Die Vegetation wird im Heckenkörper diszipliniert, ihr Wachstum wird auf eine Form begrenzt, ihr aber nicht untergeordnet. Das braucht Geduld. Der Künstler nimmt sich zurück und lässt der Natur über viele Jahre ihren Lauf.
Landschaft erfinden
Diese Autonomie entspricht nicht dem, was Landschaftsarchitektur landläufig bietet. Sie ist weit von der Gestaltung von Rabatten und der Pflanzung von Bäumen entfernt. Altherrs aufquellender Saucisson steht in Widerspruch zur Allerweltsverhübschung von Parks und Plätzen, zu der Landschaftsgestalter oft Hand bieten müssen. Seine Intervention lässt das Ungezähmte der Natur anklingen, das wir in unseren postindustriellen Gesellschaften nur mehr aus den Katastrophenmeldungen kennen. Sie ist selbst ein Stück Landschaft geworden und macht damit sichtbar, worüber wir sonst hinwegschauen: Auf der anderen Strassenseite liegt hinter dem Empa-Gebäude eine Wiese. So offen, so frei nimmt man Graslandschaften selten wahr wie im Widerspiel mit dem Mocken aus Grün. Landschaft so zu erfinden, dass wir sie sehen können, ist eine der vornehmsten Aufgaben ihrer Gestalter.
Bildnachweis
Hanspeter Schiess