Architektur Forum Ostschweiz

Die Landschaft zieht in die Fabrik ein

Oberhalb von Mels entstanden auf dem Areal der ehemaligen Textilfabrik Stoffel 250 Wohnungen und ein naturnaher Park, der mit überraschenden Elementen aufwartet. Verdichtung und Erholung gehen dabei Hand in Hand.

Beitrag vom 27. April 2023

Text: Ulrike Hark

  • Bild zum Beitrag Die einstige Fabrikanlage wurde zum Wohnquartier umgestaltet. Zwei Neubauten ergänzen nun den Bestand.
  • Bild zum Beitrag Der Stoffel-Platz mit seinem roten Parkett aus Melser Schieferplatten ist das Zentrum der Wohnanlage.
  • Bild zum Beitrag Ein besonderer gestalterischer Kniff der Anlage ist der neue Saunaturm, der von einem ökologischen Schwimmteich umgeben ist. Eine Schwertlilienart sorgt für die Reinigung des Wassers.
  • Bild zum Beitrag links: Die Aussenbereiche spielen als Erholungs- und Rückzugsräume eine wichtige Rolle. Gestaltet wurden sie vom Zürcher Büro Müller Illien Landschaftsarchitekten und Christoph Kohler aus Bad Ragaz.
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So manch Reisender hat sich auf der Bahnstrecke zwischen Walenstadt und Chur im Vorbeifahren sicher schon gefragt, was sich dort oben am Hang für ein Koloss breitmacht: eine alte Fabrikanlage, halb im Wald versteckt und völlig überdimen­sioniert im Verhältnis zum kleinen Städtchen Mels im Tal. Dass das alte Gemäuer im Wandel ist und dort ein Wohnquartier entsteht, erkennt man von Weitem nicht. Doch wo früher 600 Leute in einer Spinnerei und einer Weberei arbeiteten, wohnen heute bereits rund 400 Menschen, und es werden bald noch mehr sein.

Als der Glarner Unternehmer Jakob Schuler-Heer 1867 neben der sprudelnden Seez seine mächtige neue Textilfabrik baute, konnte er nicht ahnen, dass sich dieser Standort auch ohne Industrie­produktion als Glücksfall erweisen würde. Denn mit einem Blick weit hinaus ins Sarganser­land ist das Plateau eine grossartige Wohnlage.

Seinen Namen erhielt das Areal durch den St. Galler Gross­industriellen Beat Stoffel, der die Fabrik 1920 kaufte. Nach mehreren Besitzer­wechseln und einem Brand kam 1995 das Aus. 2007 wurde die Brache versteigert und ein Studienauftrag ausgelobt. Meier Hug Architekten aus Zürich entschieden ihn für sich. Mit im Boot waren Müller Illien Landschaftsarchitekten aus Zürich und der Landschafts­architekt Christoph Kohler aus Bad Ragaz. Das Team machte aus der maroden Industriebrache ein vielgestaltiges Wohn­quartier mit stimulierenden Freiräumen.

Die Fabrikgebäude wurden umgebaut und mit zwei lang­gestreckten Neu­bauten ergänzt. Während auf vergleich­baren Industrie­arealen in der Vergangen­heit viel alte Bau­substanz abgebrochen wurde, sind hier die imposante Weberei und die Spinnerei erhalten geblieben – auch dank der Weitsicht der Investoren­gruppe rund um den Immobilien­spezialist David Trümpler, der ein Faible für alte Industrie­areale hat. Kraft und Ausstrahlung der Gebäude sind auch im Innern spürbar, wo man in Loft­wohnungen mit enormen Raum­höhen lebt und die charakteristischen Stahl­stützen der damaligen Zeit architektonisch reizvoll den Takt angeben. Die Mieten sind moderat: 95 Quadratmeter kosten weniger als 2000 Franken.

Freiräume für Mensch und Natur

Wo viele Menschen zusammen­leben, braucht es besondere Sorgfalt bei der Gestaltung des Aussen­raums. Verdichtung verlangt Freiräume, die den Bewohner*innen sowohl Luft als auch Privat­sphäre verschaffen. In den letzten Jahrzehnten ist in der Schweiz der Erholungsraum bei gleichzeitiger Zunahme der Siedlungs­fläche leider um 30 Prozent geschrumpft. Anders auf dem Stoffel-Areal: Hier wurden der Wunsch nach Freiraum einerseits und der Anspruch auf Privatsphäre andererseits mit viel Liebe zum Detail unter einen Hut gebracht, die Aussen­raum­gestaltung ist besonders gut gelungen. Der vorhandene Grünraum ist schon allein flächen­mässig grossartig. Landschafts­architektin Rita Illien, die ihre Wurzeln im Bündnerland hat, griff beherzt in ihre Werkzeugkiste: Mit gezielten Eingriffen hat sie den Charakter der umgebenden Landschaft verstärkt.

Der rote Melser Schiefer ist auf dem Areal allgegen­wärtig, zum Teil tritt man auf den Wegen rund um das Ensemble auf blanken Fels. Alte Mauern aus diesem Stein hat Illien als gliedernde Elemente bestehen lassen. Wo neue Mäuerchen gezogen wurden, etwa beim Zugang zum Kinder­garten, liess sie dem Beton roten Stein beimischen. Inzwischen sind auch die neuen Mauern bereits herrlich vermoost, alt und neu verkehren in Harmonie.

«Das Herz des Areals ist der Stoffel-Platz», sagt Rita Illien. «Hier kann man mit den Nachbarn plaudern, die Kinder können spielen.» Der Begegnungs­raum mit seinem roten Parkett aus Melser Schiefer­platten ist ungewöhnlich. Er wirkt charmant improvisiert. Wenn die Sonne wandert, verändert sich das Lichtspiel durch die leicht unterschied­lichen Höhen der Platten. Und wenn es regnet, bleibt Wasser in den tieferen Zonen stehen, was speziell die Kinder unterhaltsam finden. Durch eine Passerelle ist der Platz mit dem Fabrikhof verbunden, einem Wohnhof zwischen Weberei und Spinnerei mit Kiesbelag, Gräsern und Geweih­bäumen, die von der Klima­erwärmung profitieren. Vor den Wohnungen ist Platz für Tische und Stühle oder einen Topf-Kräuter­garten der Anwohner*innen. Gut versteckt unter diesem Innenhof liegt die Tiefgarage.

Der Saunaturm

Der Clou der Anlage thront auf dem höchsten Punkt des Plateaus: eine Sauna mit Talblick, die auf den Grundmauern eines alten Öltanks errichtet wurde. Man erreicht sie über einen neu angelegten Hohlweg, der einer ehemaligen Druckleitung folgt. Kühn reckt sich der Saunaturm gen Himmel, umgeben von einem ökologischen Schwimm­teich. Die Reinigung des Wassers übernimmt eine spezielle Schwertlilienart, die jetzt im Frühling zauberhaft blüht. Über eine kleine Brücke gelangt man auf die «Schwitz-Insel».

Geschwungene Spazierwege führen zu einem Grillplatz und einem Gelände mit Spielgeräten für die Kinder. Bänke laden zum Sitzen ein, und immer wieder scheinen zwischen den Wohnbauten die Berge mit dem markanten Gonzen auf. Obwohl die Dimensionen der Bauten mit bis zu fünf Geschossen beträchtlich sind, fühlt sich niemand eingeengt, denn die Grenzen zwischen Grünzonen und Landschaft sind fliessend. Unterhalb des Areals liegt ein steiler Wiesenhang, an dem Rita Illien Obstbäume pflanzen liess. Hier führt auch der alte Wanderweg ins Weiss­tannen­tal vorbei. Doch fast wäre der grüne Hang einem Konflikt zum Opfer gefallen: Die letzte Ausbau­etappe des Areals, ein rund 100 Meter langer Riegel mit Eigen­tums­wohnungen, der nun die Hang­kante begrenzt, stiess in Mels auf heftige Kritik. Hätte man jedoch das Volumen auf mehrere Bauten verteilt, wäre vom Grün kaum etwas übriggeblieben.

Insgesamt hat Mels gewonnen: Der Wanderweg führt nun durch eine parkähnliche Grünzone, und ein neuer Schräglift verbindet den Ort direkt mit dem Quartier auf dem Hügel. Eine Einladung auch für Zugreisende, sich die Sache einmal genauer anzuschauen.

Bildnachweis

Beni Blaser

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