Die Denkfabrik im Stickereiquartier
In St.Gallen macht sich die Firma Namics zwar die industrielle Backstein-Architektur zu Nutze, lässt sie aber urban neu interpretieren.
Beitrag vom 28. Dezember 2019
Text: Susanna Koeberle
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Die Blütezeit der Ostschweizer Textilindustrie liegt weit zurück. Auch die Stadt St. Gallen war ein wichtiges Zentrum dieses für die Schweiz lange bedeutenden Wirtschaftszweiges. Hier wurde die bekannte St. Galler Stickerei produziert. In der Stadt selber wurde vornehmlich damit gehandelt und auch die Lagerhäuser befanden sich im urbanen Gebiet. Zur Zeit des grossen Bauschubs gegen Ende des 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts war die Stickereiproduktion der grösste Exportzweig der Schweizer Wirtschaft. Diese Zeiten sind definitiv vorbei, auch wenn einzelne Haute Couture Firmen nach wie vor Erzeugnisse aus der Region beziehen. Doch die stattlichen, dicht gereihten Bauten im denkmalgeschützten Stickereiquartier zeugen bis heute von dieser Epoche.
Das 2017 fertig gestellte Bürogebäude von Corinna Menn tanzt nicht nur diesbezüglich etwas aus der Reihe. Denn mitten in diesem sonst homogenen Strassenzug befand sich früher tatsächlich eine Baulücke. Diese wird mit dem Neubau nicht gänzlich geschlossen, da ein Teil der Brache zur Parzelle des Nebenhauses gehört. Links schliesst der Bau nun an das Nachbargebäude an, rechts klafft nach wie vor ein Leerraum, der etwas verwaist wirkt. Dies tut dem Ausdruck des Neulings allerdings keinen Abbruch. Die gelungene städtebauliche Einbindung ist eine der Stärken dieses Bauwerks. Der Quasi-Lückenfüller fügt sich unauffällig in die bestehende Strassenrandbebauung ein und überzeugt zugleich durch einen eigenständigen architektonischen Charakter. Das Geschäftshaus dient als Hauptsitz der Firma Namics, ursprünglich ein Start-up-Unternehmen der HSG St. Gallen.
Aufgrund einer strukturellen Veränderung der Firma suchte die Namics für den geplanten Neubau nach einem Investor und fand diesen in der Pensionskasse Asga. Nach Vorgabe der Stadt St. Gallen wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, aus dem das Projekt von Corinna Menn als Gewinner hervorging. Menn zog den Architekten Mark Amman sowie den Ingenieur Andrea Pedrazzini bei. Bezug nehmend auf die Geschichte des Quartiers lehnt sich der Entwurf an der Idee der Fabrik an. Dieses Konzept ist auch auf den Wunsch der Auftraggeberin zurückzuführen, eine offene und flexible Nutzung der Räume zu ermöglichen. Der Name «Denkfabrik», mit dem sich die Firma Namics schmückt, ist dabei Programm. In der Umsetzung dieser Vorgaben gingen die Architekten und der Ingenieur ganz eigene Wege. Die unkonventionellen Lösungen stellen sich allerdings nicht marktschreierisch in den Vordergrund, vielmehr fügt sich der Bau dezent ins städtische Gewebe ein.
Dazu trägt in erster Linie die Materialisierung der Fassade in hellgelben Backsteinen bei. Dieser Baustoff besitzt zwar eine industrielle Anmutung, wirkt aber in diesem Fall durchaus als eine zeitgemässe Interpretation der industriellen Vergangenheit. Die Backsteinarchitektur der Stickereigeschäftshäuser ist auch heute noch in der näheren Umgebung vorzufinden und wurde neuen Nutzungen zugeführt. Das verleiht dem bahnhofsnahen Viertel eine urbane und lebendige Atmosphäre.
Ein nützliches Origami
Die topografische Situation an der Unterstrasse, die auf der anderen Seite an den Hang grenzt, hat zur Folge, dass ein schmaler Graben zwischen Haus und Strasse liegt. In Kombination mit den grosszügigen Fenstern erlaubt dies den Lichteinfall bis ins unterste Geschoss, dessen Räumlichkeiten von der talseitigen Fassade aus erschlossen werden. Das Helle und Freundliche, das dieses Bauwerk prägt, findet auch im Innern seine Fortsetzung. Man betritt den Bau über eine Brücke und berührt als erstes einen organisch geformten Türgriff aus Eichenholz – ein warmer Werkstoff, der im Innern wiederholt seinen Auftritt hat. Die architektonischen Qualitäten des unaufgeregten Bürogebäudes zeigen sich auch an solchen kleinen Details. Innen angelangt fällt eine weitere Besonderheit auf.
Um das Raumgefühl nicht durch zu viele Stützen zu stören, entwickelten die Architekten für die Tragwerkstruktur eine innovative und ästhetisch ansprechende Konstruktion. Die gefalteten Deckenplatten aus Spannbeton haben etwas Skulpturales und verleihen den Räumlichkeiten eine besondere Aura. Der Entwurf gewährleistet zum einen die gewünschte Stabilität und räumliche Offenheit, zum anderen kann diese Deckenkonstruktion auch als Reverenz an die Stahlbeton-Skelettbauten des Beton-Pioniers Robert Maillard (1872–1940) gelesen werden, der auch in St. Gallen gebaut hat. Die Faltung zeigt offen, was sie tut, und liebäugelt zugleich mit der Ästhetik dieser Funktion. Die Falttechnik, die an japanische Origamis denken lässt, wird heute in den verschiedensten Disziplinen verwendet.
Urbane Leichtigkeit
Architektonisch bildet sich das Tragwerk des Baus auch aussen ab. Die Ziegelstein-Pilaster entlang der Längsfassade rhythmisieren den Bau und verleihen ihm durch ihre nach oben verjüngende Form eine gewisse Leichtigkeit. Auch horizontal nimmt die Distanz zwischen den Fenstern gegen oben ab. Das Attikageschoss schliesslich ist zurückgesetzt. In den Aufenthaltsräumen der Firma findet ein ästhetischer, konstruktiver und atmosphärischer Wechsel statt. Der offene Raum wird durch eine Stahlkonstruktion geprägt, welche die untere Faltwerkoptik quasi in ein luftiges Gebilde auflöst. Von der talseitigen Terrasse aus hat man einen wunderbaren Blick über die Stadt und ist zugleich Teil davon. Der Bau von Corinna Menn reiht sich in eine Serie architektonischer Eingriffe, welche dem Stickereiquartier einen neuen städtischen Charakter verleihen.
Bildnachweis
Hanspeter Schiess