Architektur Forum Ostschweiz

Der Tisch als Sinnbild für Gemeinschaft

Die Kirche der Bünd­ner Ge­meinde Fels­berg sollte viel­fältig genutzt werden. Ein konstruk­tiver Dialog mündete in eine bei­spiel­gebende Um­gestaltung: Behut­same bau­liche An­passungen fördern das Ge­mein­schafts­leben im Dorf und ziehen sogar Gäste von ausser­halb an.

Beitrag vom 24. April 2025

Text: Rahel Lämmler

  • Bild zum Beitrag Kirche und Friedhof liegen malerisch oberhalb des Dorfes.
  • Bild zum Beitrag Ein langer Tisch ist das neue Zentrum der Dorfgemeinschaft – sogar Vereinstreffen finden jetzt in der Kirche statt.
  • Bild zum Beitrag Die gedeckte Treppenanlage, die vom Dorfkern zu Kirche und Friedhof hinauf führt, wurde restauriert.
  • Bild zum Beitrag Ein grosses Vordach des einheimischen Ingenieurs Jürg Conzett schützt das Taufbecken im Freien und spannt einen Raum für informelle Zusammenkünfte auf.
  • Bild zum Beitrag Auf dem neuen Gemeinschaftsgrab erhebt sich eine Steinsäule des Künstlers Mirko Baselgia.

Schon von weitem sichtbar, thront die refor­mierte Kirche Fels­berg über dem alten Dorf­kern und vor der ein­drück­lichen Abbruch­kante des Calanda-Berg­massivs. Eine ge­deckte Stein­treppe führt auf den Kirchen­hügel mit dem Fried­hof, der das Gottes­haus um­gibt – malerisch ge­fasst von nied­rigen Mauern und Nach­bar­bauten. Seit der Tren­nung von Kirche und Staat im Jahr 1876 ist die poli­tische Ge­meinde Eigen­tümerin von Fried­hof und Kirch­turm – ein histo­risches Erbe, das bis heute nach­wirkt.

Fadri Ratti ist seit über 20 Jahren Pfarrer in Fels­berg. Der regel­mässige und direkte Aus­tausch mit der Kirch­gemeinde ist ihm ein grosses An­liegen. Seit länge­rem be­stand der Wunsch, die Nutzung der Kirche zu «flexi­bili­sieren», wie er sagt. Denn ein Kirch­gemeinde­haus gibt es in Fels­berg nicht. Eine freiere Ge­staltung des Gottes­dienstes und zu­sätzliche Ange­bote wie Medi­tationen waren auf­grund der zahl­reichen fest­ge­schrau­bten Bank­reihen je­doch kaum möglich. Also mus­sten die Bänke raus.

Was nach einer simp­len bau­lichen An­pas­sung klang, ent­puppte sich schnell als kom­plexes Unter­fangen.
Ausgelöst durch den anste­hen­den Er­satz der Hei­zung und dringen­den Sanie­rungs­mass­nahmen am Bau­werk und im Frei­raum, hat der Kirch­vorstand den orts­ansässigen Archi­tekten Christian Müller für die Planung beauf­tragt, und die Ge­meinde holte den Land­schafts­archi­tekten Lieni Wegelin aus Malans mit ins Boot. Die poli­tische Ge­meinde mit der Ver­tre­terin Seraina Ber­schinger erkan­nte die Ein­heit der An­lage als Chance und sagte der gemein­samen Ent­wicklung schnell zu. Der Dialog mit der Kanto­nalen Denk­mal­pflege war inten­siv und an­fangs noch von Zurück­haltung ge­prägt. Zu­nächst wurde ledig­lich die Ent­fernung eini­ger we­niger Bank­reihen er­laubt – zu wenig für Fadri Ratti, der die Kirche zu einem viel­seitig nutz­baren Raum machen wollte. Ein solcher Schritt war bisher einzig­artig – es gab kein Vor­bild, keine Refe­renz. Und auch in der Ge­meinde zeigte sich schnell: Die Kirche ist nicht nur ein Ge­bäude, son­dern ein emo­tional auf­gela­dener Ort. Viele Fels­berg­erin­nen und Fels­berger sind dort ge­tauft, kon­firmiert und ver­heiratet worden oder haben sich in der Kirche von ihren Liebsten ver­ab­schiedet – jede Ver­ände­rung be­rührt auch per­sönliche Erin­nerungen. Die ge­plante Um­ge­staltung ver­unsicherte, rief Fragen hervor. Wie gelingt unter sol­chen Vor­aus­setzungen eine über­zeu­gende Weiter­ent­wicklung, die nicht trennt, sondern ver­bindet?

Der Einbezug ex­terner Fach­personen er­wies sich als wert­voll. Die Vision nahm Ge­stalt an, als der Zür­cher Theo­loge Matthias Krieg ins Spiel kam: Inspi­riert von der Bibel­pas­sage Jesaja 25,6–8, in der Gott am Ende der Zeit alle Völker zu Speise und Wein einlädt, ent­stand die Idee eines langen Tisches im Kirchen­raum. Krieg unter­stützte auch beim spiri­tuell-litur­gischen Nutzungs­konzept. Die An­lehnung an Leo­nardo da Vincis Wand­gemälde «Abend­mahl» half, die Um­gestal­tung in einen litur­gischen Kon­text einzu­betten. Drei ge­schnitzte Symbole an der Decke von 1951 – Trauben, Kelch und Ähren – unter­streichen diesen Bezug. Der Tisch wurde so zum Sinn­bild für Gemein­schaft und Aus­tausch. Die Denk­mal­pflege beauf­tragte den St. Galler Archi­tekten Bruno Bossart mit einem Gut­achten. Mit Expert­innen und Ex­perten von Universi­täten und Museen, aber auch an Kirchen­bau­tagungen wurde das Vor­haben ein­gehend disku­tiert. Die evange­lisch-re­formierte Lan­des­kirche Grau­bünden mit Kirchen­rats­präsi­dentin Erika Cahenzli war gegen­über der Öff­nung der Kirche positiv ein­gestellt und unter­stützte das Projekt von An­fang an.

Als Resultat eines sorg­fältig geführ­ten Ver­mittlungs­prozesses stim­mten im Novem­ber 2020 so­wohl die ev­an­gelische Kirch­gemeinde als auch die politische Ge­meinde Fels­berg deutlich für die Um­gestal­tung von Kirche und Fried­hof. Doch damit war es nicht getan: Die Verän­derung sollte nicht nur funktio­nal, sondern auch sinn­lich und spiri­tuell erleb­bar werden. Die eigens ge­gründete Kom­mis­sion Kunst-am-Bau führte 2021 einen zwei­stufigen Wett­be­werb mit fünf Kunst­schaf­fenden durch. Das Projekt «Sedi­men­taziun» von Mirko Baselgia über­zeugte mit vier symbol­starken Gesten, um­gesetzt in Fels­berger Calanda­kalk, einem lo­kalen Natur­stein. Mit­hilfe der Geomantie wurden die Inter­ventionen mit den Energie­strömen des Kult­platzes in Ein­klang ge­bracht: Die Schwelle am Ende der Stein­treppe markiert den Über­gang vom Profanen zum Sakralen. Eine Stein­säule auf dem neuen Gemeinschafts­grab steht für spirituel­le Er­hebung. Eben­falls als Teil des Kunst­projekts be­kam das Tauf­becken einen neuen Platz auf einem zylin­drischen Sockel draussen unter dem neuen Vor­dach. Die vierte Geste, ein in den Holz­boden einge­lassener Stein­kreis im Kirchen­innern, symboli­siert Un­end­lich­keit und das Zusammen­treffen ver­schiedener Zeiten und Räume.

Der Traum von Fadri Ratti und dem Kirchen­vor­stand kann nun gelebt werden. Ratti ist zu­frieden. Und die poli­tische Ge­meinde? Die um­gestal­tete Kirche findet immer mehr An­klang – in Fels­berg und weit darüber hinaus. Auch an­fangs kritische Stim­men haben sich durch die ge­lungene Um­gestal­tung gewin­nen lassen. Neu­zu­züger werden dort zum Apéro em­pfangen. Mit­glieder sind dazu­gekom­men, einige wenige haben sich auch ab­gewendet. Beim Morgen­gottes­dienst gibt es Kaffee und einen gros­sen Zopf, beim Abend­gottes­dienst Käse, Birnen­brot oder auch mal ein Riso­tto. Der lange Tisch ist ge­deckt – nicht nur mit Speisen, sondern mit dem Wunsch, bei­sam­men zu sein.

Auch im Aussen­raum ist Neues entstanden: Das ele­gante Vor­dach, ent­worfen vom renom­mierten Churer Ingenieur Jürg Conzett, bietet dem Tauf­becken, aber auch für infor­melle Begeg­nungen Schutz vor Wind und Wetter. Es ve­rbindet archi­tekto­nische Fines­sen mit leiser Geste.

Die gezielten Eingriff­e sind sehr sorg­fältig ge­plant und um­sichtig in den Be­stand inte­griert. Lokale Bau­materi­alien wie Holz und Kalkstein und die Wiederverwendung von Vor­gefunde­nem, etwa der alten Kirchen­bänke, sind eine Selbst­verständlich­keit. Dank der erfolg­reichen Zusam­men­arbeit aller Be­teilig­ten zeigt sich die Um­ge­staltung unpräten­tiös und selbst­ver­ständlich. Und der Calanda­kalk­stein, der sich auf­grund der wei­chen Beschaffen­heit als Schwelle gar nicht eignet? Oder viel­leicht doch? Seine Ober­fläche ver­ändert sich mit jedem Schritt, nimmt Spuren auf und lässt Wandel zu, den es im Laufe der Jahre wohl immer wieder braucht, um be­ständig zu bleiben.

Bildnachweis

Elisa Florian

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