Der Garten ist des Kindergartens Kern
Hutter Nüesch Architekten übersetzen das Ideal des Kindergartens ins Heute. Ihre Bauten in St. Margrethen und Heerbrugg lassen Innen und Aussen in engen Austausch treten.
Beitrag vom 4. Mai 2019
Text: Marcel Bächtiger
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Der Kindergarten ist eine Erfindung der Moderne. Was uns heute als selbstverständlicher Entwicklungsschritt im Heranwachsen eines Kindes vorkommt – der Eintritt ins öffentliche Schulsystem und damit verbunden die Erweiterung der Erfahrungswelt jenseits des elterlichen Zuhauses –, hat seine Ursprünge in den gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts. Die Industrialisierung hatte nicht nur die ländlichen Grossfamilien auseinandergerissen und in den schnell wachsenden Metropolen eine Arbeiterschicht erstehen lassen, welcher kaum Zeit zur Kinderbetreuung blieb. Sie förderte unter der besorgten Oberschicht auch eine imposante Zahl von Sozialutopisten und Philanthropen zu Tage, denen auf unterschiedlichste Art an der Volksgenesung gelegen war. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf den Kindern, die es vor der drohenden Verwahrlosung zu retten galt. Der Kindergarten – eine Wortschöpfung des deutschen Pädagogen Friedrich Fröbel von 1840 – versprach hier Abhilfe in zweifacher Hinsicht: zeitlich, indem er die Betreuung von Kindern sicherstellte, deren Eltern allmorgendlich in den Fabriken verschwanden; räumlich, indem er Mädchen und Jungen aus überbelegten Mietwohnungen und Kosthäusern einen Ort zur Verfügung stellte, der sie den Tag in einem altersgerechten Umfeld verbringen liess. Für Fröbel hatte der Kindergarten im wörtlichen wie übertragenen Sinn ein Garten zu sein: ein geschützter Raum, wo die «edelsten Gewächse der Menschheit in Übereinstimmung mit sich, mit Gott und der Natur erzogen werden» sollten.
Der Pavillon – die ideale Lösung
In der Zwischenzeit ist die ausserfamiliäre Betreuung zum Standard geworden und beginnt häufig schon im frühen Kleinkindalter. Befreit vom Stigma der Armut erfreuen sich Kindertagesstätten gerade bei der gut ausgebildeten Mittelschicht grosser Beliebtheit. Der Kindergarten wiederum gehört seit bald dreissig Jahren zur obligatorischen Schulpflicht, das ergänzende Hort- oder Mittagstischangebot geht mancherorts bereits im Konzept des Tageskindergartens auf. Auch die pädagogischen Leitbilder haben sich gewandelt. Unbestritten aber blieb über alle Zeitenwenden hinweg der Wert des Aussenraums als natürliche Erweiterung des Innenraums. «In landschaftlicher Hinsicht kann das Schulareal nicht reizvoll genug sein», heisst es im Standardwerk «Das Neue Schulhaus» des Schweizer Architekten und Publizisten Alfred Roth aus dem Jahr 1957. Für den überzeugten Modernisten sprachen sowohl Hygiene wie Pädagogik für möglichst viel Licht, Luft und Sonne und die enge Verbundenheit von Bau und Natur. Bei Kindergärten, befand Roth, stelle der eingeschossige Pavillon deshalb «die ideale Lösung» dar.
Als gälte es, die Gültigkeit dieser Behauptung zu beweisen, stehen in der weiten Ebene des Rheintals zwei Kindergärten, die Roths ideale Lösung gleichsam idealtypisch ins Heute übersetzen. Beide Bauten reihen drei Kindergarteneinheiten in einem eingeschossigen Bau aneinander, beide Bauten öffnen sich über eine gedeckte Veranda ganzseitig zum Garten, bei beiden stehen Innenund Aussenraum auf selbstverständliche Art miteinander in Bezug. Beide Bauten stammen schliesslich aus derselben Feder: Sowohl für den Kindergarten Fahr in St. Margrethen (2014) als auch für den Kindergarten Blattacker in Heerbrugg (2016) zeichnet das Bernecker Architekturbüro Hutter Nüesch Architekten verantwortlich. Dominik Hutter und Thomas Nüesch haben sich die Aufträge mit zwei Wettbewerbssiegen gesichert. Der Aussenraum sei dabei von Anfang an ein zentrales Thema gewesen, sagt Nüesch: «Überspitzt formuliert, ist der Garten wichtiger als das Haus.» Zu Recht messen die Architekten dem Aufenthalt im Freien einen grossen pädagogischen und auch gesellschaftlichen Wert bei, und zu Recht schliessen sie daraus, dass gerade eine öffentliche Institution wie der Kindergarten gerade auch in heutigen Zeiten das unkomplizierte Spielen in der Natur ermöglichen und fördern sollte.
Kindergerechte Architektur
Der Garten also ist auch hier des Kindergartens Kern, doch würde man den beiden Projekten von Hutter Nüesch Architekten nicht gerecht, liesse man das eigentlich Gebaute ausser Acht. Architektonisch mustergültig nämlich führen die beiden Pavillonbauten vor, wie aus der Klarheit der Konzeption, der Einfachheit der Mittel und dem überlegten Detail bauliche Eleganz entsteht. In St. Margrethen ist es ein filigraner Holzbau, in Heerbrugg eine kräftige Konstruktion aus Sichtbackstein und Sichtbeton, die in Form und Material den bestehenden Schulcampus fortschreibt. Verwandt sind die beiden Bauten nicht nur typologisch, sondern auch in der architektonischen Haltung, was nicht zuletzt die Frage betrifft, wie eine kindergerechte Umgebung auszusehen hat. Sollte ein Kindergarten einer Kinderzeichnung gleichen, mit bunten Farben und Formen? Die Bauten von Hutter Nüesch Architekten beantworten die Frage klar mit Nein – und demonstrieren stattdessen, was wirklich zählt: Zum Beispiel, dass die Kinder ihren Tag in einer authentischen Umgebung verbringen, umgeben von natürlichen, robusten Materialien. Dass sie Raum erhalten, um sich entfalten zu können, dass dieser Raum offen und gleichzeitig klug unterteilt ist. Dass sich der Kindergarten mit grossen Fenstern zur Landschaft öffnet, der Innenraum aber dank niedriger Brüstungen seine Geborgenheit behält. Oder eben: Dass der Zugang nicht von der Strasse her erfolgt, sondern über den gemeinschaftlich genutzten Garten führt.
Fraglos profitieren Hutter und Nüeschs ideale Lösungen auch von idealen Situationen, namentlich von relativ kleinen Bauvolumen auf relativ grossen Parzellen. Die Realität vieler anstehender Projekte für Kindergärten und Tagesstätten sieht anders aus: Gerade in städtischen Situationen muss viel Raumprogramm auf wenig Fläche Platz finden. Die eingeschossige Bauweise frisst dann den Garten auf, um den es doch eigentlich gehen würde. Es braucht hier kluge architektonische Konzepte, die auch ein oberes Geschoss einfach und lustvoll mit dem Aussenraum verbinden. Die Abwägung nämlich ist klar: im Zweifel für den Garten.
Bildnachweis
Hanspeter Schiess