Bau sticht Baum – noch
Unsere Städte werden voller, dichter und jetzt im Sommer auch heisser. Abhilfe schaffen könnte der Rückgriff auf ein traditionelles Gestaltungselement, das Verkehrsweg und Natur vereint wie kein zweites – die Allee.
Beitrag vom 24. August 2023
Text: Stefanie Haunschild
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Alleen – schon seit dem Altertum bekannt und in der Schweiz als Strassenalleen vor allem unter Napoleon Bonaparte in Mode gekommen – dienten einst ganz unterschiedlichen Bedürfnisse: als Schattenspender, als Orientierungshilfe, als Blitzableiter oder – in Form von Obstbäumen – sogar als Ort der Verpflegung für unterwegs. Doch was genau ist eigentlich eine Allee? Diese scheinbar einfache Frage ist nicht so leicht zu beantworten, existiert doch keine allgemeingültige Definition. Denn neben der klassischen Allee, der beidseitigen Baumreihe entlang eines Weges, gibt es auch Laubengänge, Pergolen oder Hohlwege, die allesamt ähnlich aussehen, aber nicht unter die Kategorie Allee fallen. Auf der anderen Seite existiert eine Vielzahl von Alleetypen wie die Doppelallee (zwei Baumreihen pro Seite) oder auch die Halballee mit nur einer Baumreihe.
Klar ist, dass es sich um eine bewusste reihenförmige Bepflanzung eines Weges handelt. Oft wurden Alleen zu repräsentativen Zwecken angelegt, worauf auch ihre Bezeichnung hindeutet. Sie leitet sich ab vom französischen Verb «aller», das daran erinnert, dass ein Ursprung der Allee im Garten liegt, wo sie als Wandelgang diente. Mit Napoleon kam im 19. Jahrhundert noch die militärische Komponente der Allee als beschattete Heerstrasse hinzu.
Nur bedingt kompatibel: Alleen und Autos
Die bei Alleen einzigartige Verknüpfung von Verkehrsweg und Landschaft, von Kultur und Natur ist einerseits Alleinstellungsmerkmal, sorgte vor allem ab den 1970er- und 1980er-Jahren aber dafür, dass immer mehr dieser raumbildenden Landmarken verschwanden. Denn Alleen und (Auto)Mobilität sind nur bedingt kompatibel: Sicherheitsbedenken wegen der Bäume als potenzielles Hindernis bei einem Aufprall, der fürs Auge anspruchsvolle Licht-Schatten-Wechsel und die an Autostrassen geltenden Mindestabstände zur Seite und nach oben trugen zum Verschwinden von zahlreichen Alleebäumen bei. Streusalz und Abgase setzen ihnen ebenfalls zu. Zudem fühlt sich niemand so richtig zuständig für den Schutz dieser markanten Pflanzungen: Für die Zwitter zwischen Kultur und Natur gibt es schweizweit noch nicht einmal ein umfassendes Inventar, auch wenn einige Alleen im Inventar der schützenswerten Ortsbilder oder im Inventar der Verkehrswege von nationaler Bedeutung berücksichtigt sind.
Ein weiterer, immer wieder gegen Alleen ins Feld geführter Punkt ist die aufwendige Pflege, die gewährleistet sein muss, damit sie ihre Funktionen erfüllen können. Nichtsdestotrotz ist die Allee in der öffentlichen Wahrnehmung positiv konnotiert – man denke nur an die Europaallee in Zürich, mit der man wohl nicht in erster Linie die durchaus vorhandene Bepflanzung, sondern die Bebauung aus Glas, Stein und Beton assoziiert.
Maienfeld in der Champions League
Auch wenn die Alleentradition in der Schweiz nicht so ausgeprägt ist wie in ihren Nachbarländern, finden sich vor allem in der Ostschweiz doch zahlreiche noch erhaltene Exemplare. Darunter ist mit der um 1725 entstandenen Lindenallee oberhalb von Schloss Castell in Tägerwilen die vermutlich älteste Allee des Landes. Und auch eine Art Alleen-Star ist dabei: Die Pyramidenpappel-Allee in Maienfeld gilt europaweit als eine der Schönsten ihrer Art. Das liegt an der hohen Regelmässigkeit der Pflanzung, aber auch an der markanten Bergszenerie im Hintergrund. Die vermutlich etwa 70-jährigen Pappeln sind wechselständig, also versetzt gepflanzt, wodurch Kronen und Wurzelwerk mehr Platz zur Verfügung haben, die Bäume aber auch besser vor Wind schützen – eine sinnvolle Überlegung in der Rheinebene.
Die Pyramidenpappel war übrigens ein Favorit Napoleons. Dies aufgrund ihrer guten Drainagewirkung für die damals noch unbefestigten Strassen, was dazu führte, dass die Pyramidenpappel auch «Napoleonspappel» genannt wurde. Dass diese Allee auch heute noch in so einem guten Zustand ist, verdankt sie vor allem zwei Tatsachen: Zum einen handelt es sich hier um eine wenig befahrene Nebenstrasse. Zum anderen gibt es in ihrem Fall eine klare Zuständigkeit für die Pflege der Bäume.
Die Zukunft der Allee
Nachdem Alleen in der Planung in den letzten Jahrzehnten bestenfalls ignoriert wurden, ändert sich dies gerade: Die Pflanzungen könnten ein wichtiges Puzzleteil im Kampf gegen die Klimaerwärmung sein. Denn während über die globalen Massnahmen zu deren Bekämpfung noch diskutiert wird, ist eine lokale Möglichkeit zur Senkung der Temperaturen hinlänglich bekannt und etabliert: Bäume pflanzen. Oder noch besser: Alte Bäume erhalten. Ein grosskroniger Laubbaum senkt die gefühlte Temperatur in seinem Umkreis um nicht weniger als 4 bis 8 Grad Celsius – dank des Schattens, den er spendet, und durch Evapotranspiration, also die Verdunstungskälte des Wassers, das er an die Luft abgibt.
Erschreckenderweise sind die Bäume in den Schweizer Städten trotzdem auf dem Rückzug: Wie die 2022 erschienene und vom WWF initiierte St. Galler Studie «Grünes Gallustal» zeigt, nimmt etwa in Zürich das Kronenvolumen um jährlich 1,5 Prozent ab. Grund dafür ist auch die innere Verdichtung, welche die Grundstücksgrenzen maximal ausreizt, wobei wertvolle Grünräume verloren gehen – trotz Baumschutz.
Bisher wenig als potenzielle Grünräume in Betracht gezogen hatte man die Strassen. Hier setzt auch die erwähnte Studie «Grünes Gallustal» an: In St. Gallen sind vor allem die Einfallstrassen von der Umgebung ins Zentrum bis auf wenige Abschnitte versiegelt und frei von Grün. Eine alleeähnliche Bepflanzung der insgesamt 25 Kilometer an Hauptstrassen in St. Gallen könnte nicht nur kühlen, sondern auch die Luftqualität erhöhen, den Lärm dämpfen und die Feinstaubbelastung mindern. Damit das in einer weitgehend versiegelten Umgebung aber funktioniert, braucht es grosskronige Bäume, die die Hitze gut vertragen. Es gibt bereits einige Forschungsarbeiten zum «Zukunftsbaum», der sich für solche Standorte eignet. Für die Allee der Zukunft schlagen sie denn auch Konzepte vor, die sich am klassischen Modell zwar anlehnen, aber für heutige Anforderungen besser geeignet sind, also etwa die Bepflanzung mit unterschiedlichen und hitzeresistenteren Baumarten wie Winterlinde oder Spitzahorn und die Unterpflanzung mit Stauden.
Hier schliesst sich der Kreis: Unter ganz anderen Umständen als Schattenspender entstanden, könnte die traditionelle Allee, adaptiert an heutige Ansprüche, die Luftqualität in den Städten verbessern und die Temperaturen zu senken. Mit der erhofften Abnahme des Autoverkehrs zugunsten des Langsamverkehrs verlieren auch die Argumente gegen eine Baumbepflanzung am Fahrbahnrand an Sprengkraft – die «neue» Allee könnte als Stadtallee des 21. Jahrhunderts eine weitere Blüte erleben.
Bildnachweis
Ladina Bischof