Aus «Hasenställen» wird «Prosa»
Die Verdichtung von Wohnquartieren gelingt nicht nur mit Mehrfamilienbauten. Zwei spezielle Siedlungen im Rheintal.
Beitrag vom 21. Juli 2020
Text: Deborah Fehlmann
- ← Übersicht
- ← Karte
- → Vorwärts
- ← Rückwärts
«Wir wollten nicht in einen Block ziehen», sagt Marcel Specker. Der Landschaftsarchitekt wohnt mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter seit sieben Jahren in der Siedlung Schlatt in Heerbrugg. Auf drei Seiten umschliesst ein Wohnquartier die drei flachen Häuserzeilen, auf der vierten Seite geht der Blick ins weite Feld. Mit ihren Flachdächern und Eternitfassaden sind die insgesamt 25 schmalen Reihenhäuschen inmitten von Einfamilienhäusern ein Unikum. Ihre Gleichförmigkeit trug ihnen schon kurz nach der Fertigstellung 1968 den Spitznamen «Hühnerställe» ein. Doch die Siedlung steht hier nicht zufällig: Sie war eine Antwort auf die damalige Nachfrage nach erschwinglichem Wohnraum für Familien. Die Büchel Fertigbauten AG aus Rebstein erstellte sie nach hauseigenem System und in der rekordverdächtigen Aufrichtzeit von einem Tag pro Haus. Eine Wohneinheit kostete damals 82 000 Franken inklusive Land, was heute rund 260 000 Franken entspricht. Die Lebenskostenstruktur im Rheintal erlaube keine höheren Hauskosten, schrieb die Zeitschrift «Bauen + Wohnen», welche die Siedlung damals porträtierte.
Auch deshalb waren die Häuser in ihrer ursprünglichen Form alle identisch: Im Erdgeschoss ein Eingangsbereich, Küche und Waschküche, ein Abstellraum und das Wohnzimmer. Darüber ein Eltern- und zwei Kinderzimmer, dazwischen ein Bad. Vor jedem Wohnzimmer liegt ein Garten mit Pergola, den eine Mauer von jenem des Nachbarn abtrennt. Ein Untergeschoss gibt es nicht. «Die Wohneinheiten sind zwar kompakt, aber geschickt organisiert», sagt Specker. Die junge Familie schätzt es, hier ein Haus auf zwei Stockwerken bewohnen zu können: «Man kann sich einerseits innerhalb der Wohnung gut zurückziehen und kommt andererseits direkt nach draussen. Und wir haben einen eigenen Garten. Gerade mit kleinen Kindern sind das Qualitäten, die eine Geschosswohnung nicht bietet.»
Specker ist in der Gegend aufgewachsen. Für Kinder war die Siedlung Schlatt ein Anziehungspunkt: «Hier lebten viele Familien. Auf dem Spielplatz und in der Umgebung ging immer die Post ab», erinnert er sich. Das ist heute anders. Viele der früheren Hausbesitzer leben noch hier, doch die Kinder sind entweder ausgeflogen oder wohnen inzwischen in einem eigenen Reihenhaus in der Siedlung. So ist es in den gemeinschaftlichen Grünräumen still geworden. Lebendig geblieben sind aber die privaten Bereiche: An den Fassaden und in den Vorgärten treibt der individuelle Gestaltungswille bunte Blüten.
Ein vielfältiges Ökosystem
Einen Katzensprung entfernt sitzen Judith und Peter Roduner in ihrer geräumigen Essküche, während vor der grossen Fensterfront Bäume und Büsche blühen. Seit 25 Jahren bewohnen sie eine von 14 Doppelhaushälften der Siedlung Prosa in Au. Die starke Gemeinschaft schätzen sie hier besonders – man kümmere sich um einander und sorge zusammen für die Siedlung. Wer Gemüse aus dem eigenen Garten verschenken oder ein Werkzeug borgen will, schreibt in den Siedlungschat, und für einen kurzen Schwatz lehnt man sich über den Gartenzaun. «Wir haben bewusst nach einer Siedlung gesucht», erzählt Judith Roduner, «auch wegen der Kinder. Im autofreien Aussenraum konnten wir sie unbesorgt spielen lassen, und Kameraden hatten sie hier zuhauf.» Ein Einfamilienhaus wäre ihnen aber auch zu teuer und zu verschwenderisch gewesen. «Das Abstandsgrün rundherum brauchen wir nicht. Ein privater Grünstreifen genügt», sagt Peter Roduner.
Tatsächlich wollte dessen früherer Besitzer das Land, wo heute die Siedlung Prosa steht, in Einfamilienhausparzellen unterteilen. Zum Bau einer Siedlung überzeugten ihn die Architekten Köppel + Martinez. Sie ordneten die sieben Doppelhäuser in Form eines U an und sahen in der Mitte einen zentralen Parkplatz vor. Dank der minimalen Erschliessungsfläche erzielten sie eine hohe Bebauungsdichte und zugleich grosszügige Aussenräume. Backsteinmauern trennen die Privatgärten vom Fusswegnetz und dienen zugleich als Gartenschuppen und Velounterstände. Die Häuser planten die Architekten als Holzelementbauten.
Um Kosten zu sparen, strebten sie einen hohen Standardisierungsgrad an. So basieren die Häuser auf einem strengen Raster und kommen mit nur zwei Fensterformaten aus. Das alles mutete in einem Einfamilienhausquartier Mitte der Neunzigerjahre wohl zu exotisch an und die neue Siedlung erhielt – wenig kreativ – den Spottnamen «Hasenställe».
Wer die Prosa heute besucht, denkt kaum an Massentierhaltung, sondern eher an ein vielfältiges Ökosystem: Das Äussere der Doppelhäuser ist zwar bis auf die Markisen identisch, aber dafür hochwertig. Die 14 gleichgerichteten Pultdächer mit den dazwischenliegenden Dachterrassen verleihen dem Ensemble Expressivität und ihre gleichmässige Verwitterung steht den Holzfassaden gut an. Die privaten Gärten gestaltet jeder nach seinem Geschmack und die meisten sind über ein Vierteljahrhundert üppig eingewachsen. Im Inneren konnten die Käufer viel mitbestimmen, von der Lage und Gestaltung der Küche über die Badezimmer bis zur Raumeinteilung. «Das war sehr wertvoll», sagt Judith Roduner.
Der Argwohn im Quartier ist längst verflogen. Viele Nachbarn sind inzwischen gute Freunde und fast schon zu einem Teil der Gemeinschaft geworden. Das Bedürfnis nach mehr Distanz hatten die Roduners nie. «Zurückziehen kann man sich auch hier», sagt Peter Roduner. «Aber man muss sich für das Leben in einer Siedlung entscheiden. Dazu gehört auch, auf die Anderen Rücksicht zu nehmen und selbst tolerant sein, wenn zum Beispiel draussen die Kinder lärmen.»
Wieso also anstelle eines Wohnblocks nicht wieder einmal eine Siedlung bauen? Von etwas mehr Gemeinschaftssinn in der Planung profitieren am Schluss alle – im besten Fall sogar das Quartier
Bildnachweis
Hanspeter Schiess